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Autor Thema: Verrücktes Amerika  (Gelesen 1482 mal)

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WanderLöwe

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    • WanderLöwe
Verrücktes Amerika
« am: 12.08.2004, 13:34 Uhr »
Ich weiß nicht ob's hierher gehört, aber seht mal, was ich heute in der BörsenZeitung entdeckt habe:

Notiert in Washington

Von Peter De Thier

Spritpreise und der Pranger


VOLLTEXT
Die hohen Spritpreise treiben in und um Washington skurrile Blüten, sowohl was den
Einfallsreichtum frustrierter Autofahrer als auch die Originalität der Richter anbetrifft, die
gegen Benzindiebe Strafen verhängen müssen. So hatte im April die 18- jährige Sherelle Purnell
bei einer Tankstelle ihren Wagen mit zehn Litern Normalbenzin gefüllt. Sie setzte sich ins
Auto und fuhr weg, ohne die Rechnung zu bezahlen.

Überwachungskameras registrierten das Kennzeichen, wenige Tage danach wurde Sherelle verhaftet
und stand vergangene Woche vor Gericht.

Wegen einfachen Diebstahls winken im Bundesstaat Maryland beim ersten Vergehen bis zu 90 Tage
hinter Gittern, doch Richter William Simpson wollte der jungen Frau eine Lektion ganz anderer
Art erteilen und verdonnerte sie zu einer öffentlichen Demütigung. Sie musste sich vor jener
Tankstelle, die sie um 4,52 Dollar geprellt hatte, ein Schild umhängen mit der Aufschrift "Ich
habe Benzin gestohlen und wurde dabei erwischt".

Drei Stunden lang spazierte Sherelle während des Berufsverkehrs vor einer Ampel auf und ab.
Einige Autofahrer hupten oder rollten die Fenster herunter und beschimpften oder verlachten
den Teenager. Was dem Richter aber wohl nicht in den Sinn gekommen war: Die mit Abstand
meisten Fahrer redeten Sherelle gut zu und machten ihr Mut. "Du hast kein Verbrechen
begangen", rief ihr ein frustrierter Geländewagenbesitzer zu. "Die wahren Betrüger sind die
Ölmultis und unsere Regierung!".

Andere stellten sich die völlig berechtigte Frage, ob es einem Richter eigentlich erlaubt ist,
von der vorgesehenen Strafe abzusehen und eine Verurteilte an den Pranger zu stellen. "Das ist
wie im Mittelalter", wetterte ein Passant, "das hat mit moderner Rechtsstaatlichkeit nichts
mehr zu tun." Obwohl sie sich von der Solidarität der anderen Autofahrer ermutigt fühlt,
meinte Sherelle anschließend, dass sie beim nächsten Tanken das Portemonnaie zückt. Egal, wie
teuer es wird.

*

Im Washingtoner Vorort Fall Church ließ sich der Bürgermeister einen originellen Weg zur
Aufbesserung der Kommunalfinanzen einfallen. So müssen Polizisten, die Autofahrern Strafzettel
ausstellen, neuerdings Quoten erfüllen. Wer wegen leicht überhöhter Geschwindigkeit oder eines
abgelaufenen Steueraufklebers angehalten wird, muss dann sein Auto von dem Verkehrspolizisten
komplett durchsuchen lassen. Wird zudem noch ein defekter Scheinwerfer entdeckt, der bei
hellem Tageslicht gar nicht eingeschaltet und daher auch nicht aufgefallen wäre, oder etwa ein
Blinker, der nicht im gleichmäßigen Sekundentakt den Fahrspurwechsel anzeigt, dann bekommt der
Fahrer gleich noch ein paar Knöllchen mehr.

Scott Rhodes, der achtstündige Schichten im Straßenverkehr absolviert und zugleich Mitglied
der Polizistengewerkschaft ist, ist sogar stolz auf seine Leistung. "Wenn mich ein erzürnter
Autofahrer zynisch fragt, ob ich eine Quote erreichen will", so Rhodes, "dann sage ich ihm die
Wahrheit." Für die Polizisten geht es nicht nur um finanzielle Anreize, sondern zudem um die
Arbeitsplatzsicherheit. Denn in Falls Church muss jeder Ordnungshüter pro Jahr mindestens 400
Strafzettel ausstellen oder Verhaftungen vornehmen. Bei der Bewertung der "Effizienz" wird
jede Diskriminierung vermieden: So bedeutet das Knöllchen wegen eines defekten Rücklichts
ebenso einen Punkt wie die Festnahme eines schwer bewaffneten Bankräubers. Wer die Quote nicht
erfüllt, wird 90 Tage lang im Rang heruntergestuft und kann fristlos aus dem öffentlichen
Dienst entlassen werden, wenn die Leistungskurve nicht binnen kurzer Zeit steil nach oben
zeigt.

Mit der Ausnahme von Rhodes lehnt die Führung der Polizeigewerkschaft die Quotenregelung
kategorisch ab. Zum einen verletze sie die Rechte der Bürger, die ohne triftigen Anlass
gezwungen würden, ihr Auto durchsuchen zu lassen. Zum anderen halte der Leistungsdruck
Polizisten davon ab, wirklich ernsten Verstößen nachzugehen. Denn einen betrunkenen Fahrer zu
verfolgen, ihm Handschellen anzulegen und ihn aufs Polizeirevier abzuführen, so wie es bei
Trunkenheit am Steuer in Amerika ausnahmslos getan wird, ist wesentlich zeitaufwendiger als
ein Strafzettel wegen eines defekten Bremslichts, bringt aber ebenfalls nur einen Punkt.

Der Bürgermeister verteidigt die Quotenpolitik ganz energisch, denn sie ist budgetwirksam.
Immerhin hat das umstrittene Vorgehen im vergangenen Jahr zusätzliche 2 Mill. Dollar in die
Kassen der finanziell angeschlagenen Kommune gespült. (Börsen-Zeitung, 12.8.2004)