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Autor Thema: Problembär 99  (Gelesen 599 mal)

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Tatonka

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Problembär 99
« am: 11.07.2005, 14:40 Uhr »
Problembär 99

Eine Kanadierin begegnet einem Grizzly - und tut das Falsche.

Es gibt ein paar Regeln, wie sich die Begegnung mit einem Grizzly überleben lässt: Nicht rennen, lautet die wichtigste davon, keine hastigen Bewegungen. Dem Bären nicht in die Augen schauen, ihn nicht provozieren. Nicht hinknien, sich nicht klein machen, nicht umdrehen. Langsam, ganz langsam rückwärts gehen.

Und falls der Bär dennoch angreift: Panik vermeiden, nicht schreien, nicht rennen. Vielleicht ist der Bär ja weiblich, eine Mutter, die ihre Jungen verteidigt. Sie würde den Eindringling vertreiben wollen, nicht fressen.

Begegnung mit Grizzly: Nicht rennen, keine hastigen Bewegungen
Als wirklich lebensgefährlich hingegen gelten junge männliche Grizzlys. Rennen hilft nicht, der Bär wäre schneller. Schreien und schlagen hilft nicht, das macht ihn nur wütend. Eine kleine Chance hat jemand, der sich tot stellt. Man sollte sich in Embryonalhaltung hinlegen, weil das den Bauch vor Bissen schützt. Die Hände decken den Nacken ab. Und dann ruhig bleiben, sogar wenn der Bär die vermeintliche Beute ins Unterholz zerrt, um sie zu verstecken: bloß keinen Muckser.

In manchen Reiseführern steht, es sei gut, auf einen Baum zu steigen. Ausgewachsene Grizzlys klettern nicht, heißt es.

Die Kanadierin Isabelle Dube begegnet ihrem Bären am Mittag des 5. Juni. Dube, 35 Jahre alt und erfolgreiche Mountainbikerin aus Canmore in der Provinz Alberta, joggt mit zwei Freundinnen auf einem Waldweg, hinter einer Kurve sehen die drei plötzlich den Grizzly auf dem Pfad stehen.

Der Bär, ein vier Jahre altes Männchen, 90 Kilogramm schwer, ist nur 25 Meter entfernt, und er hat die drei bemerkt. Der Bär dreht sich in ihre Richtung, bleibt aber stehen. Die Frauen verständigen sich mit Blicken: Langsam gehen sie rückwärts, alle drei. Nicht weit weg von der Biegung liegt der Silver Tip Golfplatz, da wären sie sicher.

Auf einmal, und ohne dass die anderen beiden Frauen dafür einen Grund sehen würden, beginnt Isabelle auf einen Baum zu steigen. Vielleicht hat sie an den Tipp mit dem Klettern gedacht, vielleicht war ihre Anspannung so groß, dass sie das Langsamgehen nicht mehr aushielt.

Ihre Freundinnen gehen weiter rückwärts, bis sie hinter der Kurve sind und den Grizzly nicht mehr sehen. Sofort rennen sie los Richtung Golfplatz, sie holen einen Officer der Wild- und Forstbehörde. Unterwegs hören die beiden, dass Isabelle den Bären anschreit. Dann Stille.

In der Gegend um Canmore waren Bären nie etwas Ungewöhnliches, der Ort liegt nahe beim Banff Nationalpark. Doch in den vergangenen zehn Jahren ist die Stadt schnell gewachsen, die neuen Siedlungen, der Golfplatz und das Naherholungsgebiet entstanden dort, wo vor zehn Jahren noch nackte Wildnis war. Das Rückzugsgebiet für die Bären schrumpfte. Die Tiere schienen keine Gefahr mehr, seit sieben Jahren ist in der ganzen Provinz Alberta kein Mensch mehr tödlich verletzt worden.

Die Stadt will mehr Ferienwohnungen in den Wald bauen, und die Mountainbiker verlangen, dass endlich mehr Pfade für ihre Räder freigegeben werden. Der Upper Bench Trail zum Beispiel, das ist Isabelle Dubes Joggingstrecke, ist laut Forstbehörde seit April eigentlich gesperrt. Nur hält sich keiner dran, die Menschen nehmen den Wald einfach in Besitz.

Die Wildhüter hingegen sehen immer noch Schwarzbären und Grizzlys im Wald, einigen haben sie Funkhalsbänder umhängen können, sie verfolgen ihre Wanderungen.

Ende Mai, 13 Tage vor Isabelles Tod, tauchte ein Grizzly beim Golfplatz auf, sein Foto wurde sogar im Lokalfernsehen gezeigt. Ein junges Männchen, das in den Abfallkörben nach Essbarem stöberte. Kein gutes Zeichen: Offenbar lernte der Bär gerade, dass nah bei den Menschen am meisten zu holen ist. So einer wird dann schnell zum "Problembär", wie Wildhüter David Ealey sagt.

Der Grizzly musste fort - um ihn vor den Verlockungen der Zivilisation zu schützen und die Zivilisation vor ihm. Das Tier wurde betäubt, mit Funkhalsband versehen und als "Bär 99" in den Computer eingetragen - dann schaffte ein Helikopter Bär 99 rund 15 Kilometer weit weg.

Warum nicht weiter, warum nicht 100 Kilometer? "Außerhalb seines Reviers würde er verhungern", sagt Ealey. "Außerdem war er ja nicht aggressiv."

In der Nacht vom 4. auf den 5. Juni war Bär 99 zurückgekehrt und lungerte wieder am Golfplatz herum. Die Wildhüter hatten sein Funksignal auf dem Monitor gesehen, ein Golfplatzangestellter scheuchte Bär 99 mit einem Minitruck in den Wald.

"Es gab zu diesem Zeitpunkt keinen Anlass, etwas gegen ihn zu unternehmen", sagt Ealey. "Er hat sich absolut bärengerecht verhalten." Man merkt Ealey an, dass er nicht dem Bären die Schuld gibt. Und auch sich selbst nicht. Wie hätte er wissen können, dass eine Frau auf den Baum steigt, um seinem Grizzly zu entkommen?

Etwa gegen 14 Uhr, kurz nachdem Isabelle Dube aufgehört hatte zu schreien, erreichen zwei Wildhüter und eine von Isabelles Freundinnen die Biegung.

Grizzlys können Beute aus einem Baum herausschütteln. Wenn sie sich aufrichten, langen sie fast drei Meter hoch. Und, entgegen der Volksweisheit, klettern sie, zumindest die jungen.

Isabelles Leiche liegt auf dem Boden, Bär 99 sichert die Beute.

Der Officer braucht nur einen Schuss.
mit freundlichen Grüßen
Michael

Utah

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Viele Grüße
Utah



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