Hi an alle Interessierten,
soeben bekam ich einen Bericht vom Mt. St. Helens Ausbruch 1980. Ich weiß nicht, ob das jemanden interessiert, ich stelle es einfach mal in diesen Thread.
„Vancouver, Vancouver, this is it!“
Am 18. Mai 1980 explodierte der Mount St. Helens. Rückblick auf ein Ereignis, das sich jederzeit wiederholen kann.
Sonntag, 18. Mai 1980. Noch vor Sonnenaufgang beginnt die tägliche Routine. Ein Flugzeug der „Oregon National Guard“ überfliegt den Vulkan und macht Infrarotaufnahmen. Die Entwicklung der Filme und die Auswertung der relativen Temperaturverteilung der Oberfläche wird noch einige Stunden dauern; die Ergebnisse aber werden nicht mehr relevant sein. Die Seismizität in den frühen Morgenstunden ist moderat, ohne besonderen Befund.
Am ständig besetzten Beobachtungsstützpunkt „Coldwater II“, 9,2 Kilometer nordnordwestlich des Gipfels und innerhalb der Sperrzone, unternimmt der Geologe David Johnston seine morgendlichen Laser-Distanzmessungen von der sich in den letzten Wochen ständig weiter aufblähenden Nordflanke und sendet diese gegen 7 Uhr nach Vancouver: keine signifikanten Veränderungen.
Der Himmel über der Region ist wolkenlos. Hobby-Angler, einige Waldarbeiter und andere Frühaufsteher erfreuen sich der klaren Luft und einer warmen Brise aus Westen. Manche der Amateurbeobachter und -funker sind bereits auf ihren Posten, ausserhalb der roten Sperrzone. Unter ihnen Gerald Martin, einen Höhenzug weiter weg als Johnston, Position 11,5 km N, der Photograph Reid Blackburn vom „Vancouver Columbian“, der einen Auftrag für das Magazin „National Geographic“ in der Tasche hat, Position 13,7 km NW, Robert Rogers und die Kearneys, allesamt Amateurfunker, Position 12,2 km W sowie Gary Rosenquist, Amateurfotograph, und in seiner Nähe Keith Ronnholm, Geophysiker, Position 17,6 km NE.
Die Geologen Keith und Dorothy Stoffel, die gerade in der Gegend von Spokane arbeiten und an einer Konferenz in Yakima teilnehmen, entscheiden sich kurzfristig, nachdem ihnen eine Überflugerlaubnis erteilt wurde, den Vulkan aus der Luft zu beobachten. Um 7 Uhr 15 chartern sie in Yakima ein Flugzeug.
Etwa um 7 Uhr 50 dringen sie in den gesperrten Luftraum ein. Mehrmals umkreisen sie im Uhrzeigersinn die Gipfelregion und machen Beobachtungen und Photos. Beim vierten und letzten Überflug gegen halb neun sehen sie zunächst, wie Fels- und Eisblöcke des Gipfels vom Rand in den Innenkrater stürzen. Sekunden später beobachten sie, wie die gesamte Nordflanke des Berges in Bewegung gerät, durchgeschüttelt wird, sich kräuselt und dann in nördlicher Richtung auf den Spirit Lake zu hinab gleitet. Sie hatten die Initialsekunden eines gigantischen Bergsturzes miterlebt. Jetzt folgen die ersten Eruptionswolken, zunächst am unteren Ende der nun exponierten Erdrutsch-Gleitfläche, dann weiter oben, unterhalb des Gipfels; sie wachsen extrem schnell zu unglaublichen Dimensionen heran.
Um 8 Uhr 32 hat ein Erdbeben der Stärke 5,2 den Bergsturz ausgelöst. Etwa 20 bis 30 Sekunden später folgt die heftige, lateral nordwärts gerichtete Explosion. Am Boden ist Johnston mit der Erste, der den Bergrutsch wahrnimmt. Er schreit in sein Funkgerät: „Vancouver, Vancouver, this is it!” Ein weiterer Satz ist zu verstümmelt, als dass er verstanden werden könnte. Wegen atmosphärischer Störungen erreicht die Warnung nicht das Zentrum in Vancouver, andere Amateurfunker nehmen seine Nachricht auf.
Ein Naturlabor
Die katastrophischen Ereignisse und Prozesse rund um den Vulkanausbruch, hinterfragen unsere Denkweise über das Erdgeschehen. Verändert sich die Erde durch langsame und graduelle Prozesse, die durch Akkumulation im Verlauf langer Zeiträume kleine Änderungen bewirken? Oder haben rasche Prozesse innerhalb kürzester Zeit deutliche geologische Veränderungen hervorgerufen?
Die Geologie ist eine historische und keine exakte (Natur-)Wissenschaft. Die in der Vergangenheit abgelaufenen, grossräumigen oder gar globalen Prozesse der Veränderung der Erdkruste wiederholen sich in den wenigsten Fällen. Sie sind nicht reproduzierbar wie wir es beispielsweise aus der Physik kennen. Auch gibt es kein Testlabor der Grösse Erde. Aber geologische Ereignisse wie der Ausbruch des Mount St. Helens haben die Funktion und Grösse eines Miniatur-Labors.
So gesehen ist der Mount St. Helens ein Anschauungsobjekt aller erster Güte; doch nicht wegen seiner Eruption alleine, sondern wegen einer ungewöhnlichen Konzentration vielfältigster und auch bis dahin nie in diesem Spektrum beobachteter rascher Erosions- und Sedimentationsprozesse und dem Wissen, wie diese abgelaufen sind.
Obwohl der Ausbruch erwartet worden war, haben viele Wissenschaftler und Behörden die Dynamik der Eruption und seine Folgen unterschätzt. 57 Menschen kamen ums Leben. Auch daraus lässt sich ableiten, dass die geologischen Erkenntnisse über katastrophische Vorgänge noch unzureichend sind und deren Auftreten in der Erdgeschichte noch nicht ausreichend erforscht ist.
Es glich einer Kettenreaktion: Eingeleitet wurde die Explosion des Mount St. Helens durch ein Erdbeben und einen Erdrutsch, bei dem rund zwei Kubikkilometer Material bewegt wurden. Das Abgleiten des Gipfels und des Nordhangs senkte den Druck innerhalb des Vulkans, wobei sich überkritisches Wasser schlagartig in Dampf umwandelte. Die nordwärts gerichtete Dampfexplosion setzte ein Energieäquivalent von 20 Millionen Tonnen TNT frei; dabei wurde eine Waldfläche von fast 400 km2 umgeknickt.
Die pilzförmig heranwachsende Eruptionssäule stieg bis in 20 Kilometer Höhe auf. Die Magmenkammer im gipfelnahen Reservoir wurde durch die pausenlos explodierenden und hochschiessenden Gas- und Aschesäulen nach und nach entleert.
Die nach Osten über mehrere Bundesstaaten driftenden Aschewolken verfinsterten im Laufe des Tages ganze Regionen. Rund 150 Kilometer vom Mt. St. Helens entfernt verfinsterte sich in der Stadt Yakima (Bundesstaat Washington) am 18. Mai um die Mittagszeit der Himmel. Die Strassenbeleuchtung schaltete sich automatisch an. Die erste Lage des Aschenregens bestand aus “Salz und Pfeffer”. Das waren sandkorngrosse Teilchen von dunklem Gestein und helleren Feldspatfragmenten, über die sich eine dickere Schicht aus staubkorngrossen Glasteilchen legte.
30 Kilometer nördlich von Yakima lagerte sich die Asche mit ca. 20 mm Mächtigkeit ab. In der 330 Kilometer entfernten Stadt Ridswill erreichte die Aschenlage über 70 mm. Selbst in der 430 Kilometer vom Vulkan entfernten Stadt Spokane, wo lediglich 5 mm Asche fielen, wurde es um 15 Uhr finster, so dass die Sichtweite auf 3 Meter sank. Schlammströme verwüsteten über Dutzende von Kilometern - auch weit abseits der Explosionszone - Flüsse und Täler.
Gegen Abend klang die Eruptionstätigkeit ab. Während des neunstündigen Ausbruchs hatte der Vulkan eine Energie freigesetzt, die 400 bis 430 Millionen Tonnen TNT entsprach. Das ist vergleichbar mit der Gewalt von 20.000 Hiroschima-Atombomben. Die gesamte Nordflanke des Mount St. Helens war weggesprengt. Der Vulkan hat 400 Höhenmeter eingebüsst (von 2950 m auf 2550 m); ein Areal von 600 km2 war vollkommen verwüstet.
Viele Grüße,
Angie