usa-reise.de Forum

Autor Thema: Spiel mir das Lied vom Leben  (Gelesen 443 mal)

0 Mitglieder und 1 Gast betrachten dieses Thema.

Heiner

  • Hamburg meine Perle
  • Moderator
  • Diamond Member
  • *****
  • Beiträge: 16.930
  • Don't Mess with Texas
Spiel mir das Lied vom Leben
« am: 09.04.2006, 17:53 Uhr »
Spiel mir das Lied vom Leben
Obwohl es vom Hurrikan "Katrina" noch gezeichnet ist, kehrt New Orleans langsam auf die touristische Landkarte zurück. Nach dem Karneval Mardi Gras lädt die Stadt nun zum Jazz and Heritage Festival. Sebastian Moll ist vorausgereist

von Stefan Moll

icht schlecht, was?" Mein Thekennachbar in "Molly's at the Market" grinst. Jeder von uns hat ein monströses Sandwich vor sich, prall gestopft mit Mortadella, Schinken, Salami, Mozzarella und Provolone, garniert mit einem süßlich-scharfen Olivensalat. Muffuletta heißt die Komposition, die sizilianische Einwanderer vor 150 Jahren in New Orleans einführten. Dazu gibt es ein Abita Amber - ein cremiges Bier einer Kleinbrauerei aus New Orleans.

Wie für mich der Abend weitergehe, will der Mann wissen, der sich als Arthur vorstellt. Ich habe gehört, der Trompeter Kermit Huffins spiele umsonst im "Howling Wolf", antworte ich. "Klingt gut", erwidert er. Er habe eigentlich vorgehabt, ins "Snug Harbor" in der Frenchmen Street am Rande des French Quarter zu gehen, wo sich noch ein wenig das Flair der Boheme gehalten hat, für das das "Vieux Carree" berühmt ist. Dort spiele Ellis Marsalis, eine Legende unter den Jazz-Pianisten. Wir verschieben die Entscheidung und bestellen noch ein Abita.

In diesem Augenblick ist die Welt hier in Ordnung. New Orleans ist all das, wofür man die Stadt liebt. Zeit ist keine relevante Kategorie, es gibt nur gutes Essen und gute Musik. Man läßt sich vom Tag durch den Abend und in die Nacht treiben. Auch oder gerade nach dem Hurrikan "Katrina", der hier im vorigen August tobte und weite Teile der Stadt zerstörte.

Wer die ausgelassenen Mardi-Gras-Umzüge vor vier Wochen erlebte, konnte zu der Ansicht kommen, den Hurrikan habe es gar nicht gegeben. Die bunten Paraden zogen durch die historischen, vom Sturm nicht oder kaum zerstörten Stadtteile - French Quarter, Garden District und die Gegend um die St. Charles Avenue; in die Wüsteneien im Osten und Norden der Stadt kam damals kaum ein Tourist.

Das wird beim Jazz-Festival Ende April/Anfang Mai nicht anders sein - es sei denn, man bucht eine "Katrina Tour" durch die verwüsteten Viertel der Stadt.

Drei Stunden lang kämpft Reiseunternehmerin Isabelle Cussart ständig mit den Tränen, während sie uns in einem Kleinbus durch die endlose apokalyptische Landschaft kutscht, die gleich hinter dem French Quarter beginnt. Man leidet förmlich mit ihr und freut sich dann ebenso über jede Kleinigkeit, die auf einen Neuanfang deutet. Und wenn es nur ein neuer Stromzähler an einem Wohnwagen ist. In Lakeview oder im Yachthafen am Lake Pontchartrain scheint die Zeit seit dem 29. August, als der Sturm über die Küste der USA fegte, stehengeblieben zu sein. Stühle, Sofas, Bäume, Autos, Yachten liegen eine halbe Meile vom See entfernt unentwirrbar wie in einem Hurrikan-Freilichtmuseum.

Wenn man nach all dem Grauen wieder in das herausgeputzte French Quarter einbiegt, kommt einem die Schönheit des Viertels unwirklich vor. Doch man müsse kein schlechtes Gewissen wegen des Trümmer-Tourismus haben, ihn für pietätlos und unverschämt halten, sagt Isabelle. Denn nur so gerate die Katastrophe nicht in Vergessenheit, nur so steige die Bereitschaft, New Orleans auch als Touristenziel wieder eine Chance zu geben.

Die Einwohner haben ihre Entscheidung schon getroffen, vier von fünf Bürgern wollen laut Umfragen nach New Orleans zurückkehren. Allerdings: Die Mehrheit der Befragten waren Weiße, und sie waren von "Katrina" oft weitaus weniger betroffen als Schwarze. Weshalb Zeitungskommentatoren immer wieder prophezeien, die Stadt werde bald ihre "Farbe" wechseln und heller sein.
 Ob sich damit auch die Musik ändern wird, kann noch niemand sagen. Die Gästeliste des Jazz-Festivals läßt jedenfalls keine Tendenz erkennen, die Zahl schwarzer und weißer Künstler hält sich etwa die Waage. So haben sich unter anderem Fats Domino, Bruce Springsteen, Jimmy Buffett, Doug Kershaw, Etta James, Pete Fountain, Elvis Costello, Bob Dylan, Lionel Richie und Paul Simon angekündigt.

Auf dem Messeplatz der alten Rennbahn sollen neun Bühnen errichtet werden, von denen hier Jazz, dort Gospel, da hinten Zydeco, an der anderen Ecke Blues, ein Stück weiter haitianische Musik und afrikanische Rhythmen tönen. Dazwischen wird es - wie in New Orleans bei solchen Festivitäten üblich - Stände geben, die sich unter Milchkalb-Sandwiches, Flußkrebs-Etouffee und Austern aus dem Delta biegen werden. Man kann Musik hören und tanzen und essen und sich in der Feier verlieren, die die ganze Stadt erfassen wird.

Eine Ahnung von diesem Geist bekommen Arthur und ich im "Donna's" an der Rampart-Street, wo wir schließlich landen. Der Laden besteht aus ein paar einfachen Stühlen und Tischen auf einem abgewetzten Linoleumfußboden. Vergilbte Bilder früherer Jazzgrößen zieren die Wand. Schlicht gekleidete Paare aller Altersklassen füllen den Raum gemeinsam mit ein paar einzelnen Stammgästen.

Die Zusammenkunft hat etwas Alltägliches - man geht hier zum Dixie, wie man in Deutschland in die Pilsstube geht, um Fußball zu schauen. Die Band, die New Orleans Jazz Vipers, ist ein zusammengewürfelter Haufen aus Alt und Jung, Schwarz und Weiß, geeint durch den Jazz. Der etwa 60jährige Saxophonist spielt die alten Dixie-Nummern ebenso leidenschaftlich wie der junge schwarze Posaunist, der mit seinem schweren Goldschmuck eigentlich eher wie ein Rapper aussieht.

Paare stehen nach und nach auf und tanzen Two Step, und sie tun das so lässig und so perfekt, wie die Musiker ihre Instrumente beherrschen. Donna, die Wirtin, serviert derweil das einzige Gericht auf der nicht vorhandenen Speisekarte - hausgemachtes Jambalaya, einen scharfen Eintopf aus Würsten und Meeresfrüchten.

In solchen Momenten vergißt man, was die Stadt durchgemacht hat. Erst als die Violinistin den Posaunisten durchs Mikrofon fragt, wann er denn wieder nach New Orleans zurückziehen werde, wird man daran erinnert. Es hat ihn nach dem Sturm nach Oregon verschlagen, und er ist nur zu Besuch. "Bald, sehr, sehr bald", komme er zurück, antwortet er mit zitterndem Heimweh in der Stimme. Noch hat er in New Orleans keine Wohnung. Aber er hat noch immer eine Heimat hier.

Artikel erschienen am 9. April 2006

http://www.wams.de/data/2006/04/09/870645.html

Gruß Heiner


Wat mutt, dat mutt