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Heiner

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Wundervogel mit Faktor zwei
« am: 17.03.2006, 18:40 Uhr »
HANDELSBLATT, Freitag, 17. März 2006, 17:01 Uhr
Premierenflug war von Pech und Pannen geplagt

Wundervogel mit Faktor zwei

Von Matthias Eberle

Mit Koch und eingebautem Sternenhimmel: Am 17. März 1960 startet die Lufthansa mit der ersten Boeing 707 ins Düsenflug-Zeitalter. Das Fliegen wird vom Luxus zum Volkssport – und die Lufthansa wächst und wächst.

HAMBURG. Als gegen Mittag die Sirenen der Hamburger Luftwerft aufheulen, schläft Harald Claasen noch. Unruhig zwar, weil der Kopf des Lufthansa-Technikers ein historisches Ereignis nicht verpassen will – der Körper aber verlangt Ruhe nach der Nachtschicht. Abends berichten ihm die Kollegen von Tumulten auf dem Vorfeld des Flughafens Fuhlsbüttel: „Die Neugier, diesen Wundervogel von innen sehen zu können, übermannte die Masse, als sie hinter den Putzfrauen die Maschine regelrecht stürmte“, schildert die Mitarbeiterzeitung „Lufthanseat“ das Treiben nach der Landung des ersten Düsenjets in Deutschland.

Es ist genau 11.31 Uhr an jenem Märztag vor 46 Jahren, als das Wunderflugzeug in den blau-gelb-weißen Farben der Lufthansa unter Hamburgs Regenwolken auftaucht. An den Steuerhörnern der 25 Millionen Mark teuren Boeing 707 sitzen Chefpilot Rudolf Mayr und Flugkapitän Werner Utter.

An diesem Tag beginnt im deutschen Luftverkehr ein neues Zeitalter – „die erste Erfahrung mit einer neuen Welt“, wie es der spätere Flugvorstand Utter beschreibt. Techniker Claasen erkennt die Tragweite des Ereignisses schon daran, dass Ingenieurskollegen plötzlich Krawatte zur grauen Technikerkombi tragen.

Schneller, höher, weiter: Zwar schafft Sprinter Armin Hary im Juni 1960 in Zürich als erster Mensch die 100-Meter-Strecke in 10,0 Sekunden – eine Sensation. Die eigentliche Revolution des Jahres 1960 aber spielt sich über den Wolken ab. Sie bringt der Luftfahrt bis dahin kaum vorstellbare Rekorde am Rande der Schallgeschwindigkeit, die fortan fast im Monatstakt verbessert werden. Heute rauscht der Mensch von Neufundland nach Irland in weniger als drei Stunden, von Frankfurt nach New York in sechs Stunden und 21 Minuten, von Chicago nach Frankfurt in sieben Stunden und drei Minuten.

In der alten Welt schien das unvorstellbar. Flüge von Deutschland in die USA hatten doppelt so lange gedauert – selbst mit der Lockheed Super Constellation, die in den 50er-Jahren noch ehrfurchtsvoll als „Königin der Lüfte“ gefeiert wird. Die Boeing 707 aber macht die „Super Conny“ über Nacht zum Fall fürs Museum.

Der erste Passagierjet mit einem Turbinen-Luftstrahl fliegt – auch dank der markanten Pfeilform, die Boeing und Airbus bis heute als Vorbild für Tragflächen nutzen – mit fast 1 000 km/h. Und sie befördert dabei fast doppelt so viele Passagiere wie die bis dahin größten Flugzeuge mit Kolbenmotoren. „Es war ein Vogel mit dem Faktor zwei. Ob Geschwindigkeit, Größe, Flughöhe oder Zuladung: Fast alle Werte hatten sich verdoppelt“, sagt Zeitzeuge Claasen. „Die 707 war der Start in eine neue Epoche – und jeder spürte es“, schreibt der stellvertretende Lufthansa-Vorstandschef Reinhard Abraham bei der Ausmusterung des Flugzeugtyps 1984.

Obwohl das über 20 Jahre her ist, mag Harald Claasen nicht lassen von einem Jet, der für viele Fans bis heute das schönste je gebaute Strahlverkehrsflugzeug ist. Seit zwei Jahren ist der ruhige, fast unauffällige Mann mit dem weißen Haar und dem korrekten Scheitel in Rente – eigentlich. In Wirklichkeit verfasst der bei Ingenieuren als „Mister 707“ bekannte Unruheständler bis heute technische Expertisen im Auftrag der Lufthansa Technik AG. Bisweilen führt Claasen auch Besucher durch einen längst stillgelegten Jet vom Typ 707-430, der auf dem Vorfeld des Hamburger Flughafens seit Jahren als Kulisse für Filmproduktionen, Hochzeiten oder Firmenfeiern dient. Diverse TV-Stars wurden hier in der Fist Class bedient, etwa Heiner Lauterbach als Axel Springer („Der Verleger“) oder Michael Mendel als Willy Brandt („Im Schatten der Macht“).

„Eigentlich wollte Wim Thoelke die Maschine mal für den Aufbau einer Chartergesellschaft kaufen, aber wir haben ihm abgeraten“, sagt Claasen zu Beginn des Rundgangs. Die Maschine mit der Registrierung D-ABOB sieht längst nicht mehr flugtauglich aus – hier und da hat der Zahn der Zeit auch am Wundervogel genagt. Claasen, der detailverliebte Techniker, schaut bisweilen ein wenig traurig: „Wenigstens noch mal frühlingsreif“ will er die Maschine kriegen – gemeinsam mit anderen ehrenamtlichen Helfern der „Interessengemeinschaft 707“.

Im hinteren Bereich haben die 707-Fans dem Museumsflugzeug schon eine schicke Bar verpasst, die an die frühen Tage des „Jet-Set“ erinnern soll. Claasen hat an einem Konferenztisch in der First Class Platz genommen und schwärmt vom Senator-Service der Lufthansa: Damals schien die 707 wie ein fliegender Partykeller. An Bord kommt das Bier aus Eichenfässern, das Á-la-carte-Menü wird von einem mitreisenden Koch zubereitet. Stewardessen servieren einen herzhaften Dämmerschoppen mit Steinhäger, Schwarzbrot und Schinken vom Schinkenbock.


Wo heute Internet an Bord Einzug hält, um Business-Reisenden noch über den Wolken die Arbeitszeit zu verlängern, schien einst nur Platz fürs Private. „Schauen Sie hier, ein simulierter Sternenhimmel für Nachtflüge“, sagt Claasen und zeigt auf die Decke. Zwischen Staub und Spinnweben zaubert die Beleuchtung winzige Lichter in die Kabine.

Das Beispiel zeigt: Was Airlines heute als Top-Innovation in neuen Langstreckenjets verkaufen, etwa in der First Class bei Emirates Airlines, ist eine Idee der 60er-Jahre.

Nicht nur im Luftverkehr geht es damals stürmisch voran. Die Wirtschaft in den USA und weiten Teilen Westeuropas brummt, mit der Lufthansa fliegen die Manager des Wirtschaftswunders um die Welt. Die Bundesregierung wirbt 1960 erstmals ausländische Arbeitskräfte an, weil dem Land 410 000 Arbeitskräfte fehlen. Auch die Skepsis vieler Fluglinien, mit dem Wechsel vom Propellerflieger zu den fast doppelt so großen Jets einen allzu kräftigen Kapazitätssprung zu machen, weicht bald der Euphorie: Die US-Airline PanAm bestellt die ersten sechs Maschinen vom Typ Boeing 707 und setzt damit die Konkurrenten unter Druck – ein Vorbote der Globalisierung.

Fortan lassen Boeing und sein US-Rivale Douglas, der mit der DC-8 gegen die 707 antritt, Tag und Nacht Düsenflugzeuge produzieren. Und der Präsident des Weltluftfahrtverbandes, Sir William Hildred, gibt die Devise aus: „Wir müssen die Monstren füllen, sonst fressen sie uns.“

Weil immer mehr Flugtickets angeboten werden, purzeln die Preise. Das günstigste Lufthansa-Ticket für die Strecke Frankfurt-New York, zuvor nicht unter 2 200 Mark zu haben, wird 1961 schon ab 1 703 Mark angeboten. Der Wandel von der „Touristenklasse“ zur preiswerteren „Economy Class“ kurbelt den Absatz kräftig an: Die Passagierzahlen der Kranich-Linie schnellen in die Höhe und verdoppeln sich innerhalb von drei Jahren auf 1,5 Millionen Fluggäste im Jahr.

Dabei wird der Premierenflug LH 402A von Pech und Pannen geplagt – als wolle er den Boom der Boeing 707 eher verhindern als fördern: Kaum ein offizielles Medium listet den 17. März 1960 als historischen Tag auf – wohl nicht ganz unabsichtlich, wie Lufthansa-Ingenieur Claasen meint.

Denn zunächst gibt es Probleme mit dem Anlassgerät in Hamburg, dann lässt der Reifendruck am Flughafen Frankfurt zu wünschen übrig. Schlechtes Wetter auf dem Nordatlantik macht schließlich eine Umleitung zum Ausweichflughafen Gander in Neufundland erforderlich.

Als der erste Düsenflug der Lufthansa endlich New York erreicht, muss die Crew eine Verspätung von sieben Stunden und 32 Minuten nach Deutschland melden.
Und auch beim Rückflug gibt es Probleme, etwa weil das Lufthansa-Geschirr gut verschlossen beim New Yorker Zoll liegen geblieben ist. Die Crew muss erst die Teller und Tassen des Hinflugs waschen lassen, ehe der Boeing-Jet mit seinen 16 First- und 132 Economy-Class-Sesseln wieder Richtung Frankfurt abheben kann.

In den jungen Jahren der Jetfliegerei haben die Piloten vor allem zwei Feinde: die nicht immer schon ganz ausgereifte Technik der Flugzeuge und das Wetter. Wenn Ex-Lufthansa-Vorstand Werner Utter in Erinnerungen kramt und von Flügen mit der Boeing 707 berichtet, kommt er unweigerlich auf Gewitter, Hagelfronten und andere Turbulenzen zu sprechen: „Die Maschine war ein Spielball des Wetters, wie ein Blatt Papier im Sturm“, bringt sich der Mann mit den fast 30 000 Flugstunden dann in Fahrt. Es sind Zeiten, in denen Mitarbeiter des Flughafens Kathmandu auf einen Berg steigen und winken müssen, sobald die Startbahn frei von Kühen ist. Utter ist der erste und einzige Pilot, der je mit einer großen Boeing 707 auf dem Gebirgsflughafen Kathmandu landete. Prominenter Besucher im Cockpit ist Bundespräsident Heinrich Lübke. Der muss sich beim Starten und Landen an der Schulter des Kapitäns festkrallen, um seine Flugangst zu bändigen.

Allen Kinderkrankheiten zum Trotz erwirbt sich die 707 dennoch schnell einen Ruf als überaus zuverlässiges Flugzeug. „Nach drei Monaten hatten wir schon eine durchschnittliche Tagesauslastung von zehneinhalb Stunden erreicht. Dieser Wert war Weltspitze“, sagt Claasen. Er selbst ist daran nicht ganz unbeteiligt. Zunächst ist er als Prüfingenieur tätig, unter anderem bei Flugzeugabnahmen im Boeing-Werk Seattle. Später wird Claasen Systemingenieur für die Flugzeugstruktur bei Lufthansa Technik.

Mit der 707, die den Mittel- und Langstreckenverkehr rasant erobert, beginnt auch der Aufstieg der „neuen“ Lufthansa zu einer weltweit führenden Fluglinie, die nach der Liquidation des Unternehmens zum Ende des Zweiten Weltkriegs bis 1955 am Boden gehalten wurde. Zwar zeigt der Jet-Boom auch kurz seine Schattenseiten, etwa weil die bisherige Langstreckenflotte der Lufthansa mit dem Eintritt ins Düsenzeitalter fast über Nacht entwertet ist.

Doch schon 1964 ist die Flotte ganz auf Düsenjets umgestellt, und der blaue Kranich auf gelbem Grund wird zu einem erfolgreichen Markenzeichen der deutschen Wirtschaft. Zehn Jahre nach der Neugründung macht das Unternehmen erstmals Gewinn: 36,9 Millionen Mark.

Heute gilt die Lufthansa mit ihren gut 90 000 Mitarbeitern und knapp 20 Milliarden Euro Umsatz als einer der größten und wirtschaftlich erfolgreichsten Flugkonzerne der Welt. Gemeinsam mit der Star Alliance, einem von Lufthansa initiierten Linienverbund, wickelt das Unternehmen etwa ein Viertel des zivilen Luftverkehrs rund um den Globus ab.

Die Boeing 707 bleibt bei Lufthansa bis zum Silvestertag 1984 im Einsatz. Und einige Maschinen dieses Typs fliegen sogar heute noch: Etwa als Frachter in diversen Dritte-Welt-Ländern sowie in verschiedenen Militärversionen als Tanker oder Awacs-Aufklärer.

http://www.handelsblatt.com/pshb?fn=tt&sfn=go&id=1210413


Gruß Heiner


Wat mutt, dat mutt