10. – 12. September 2000Auch auf der Rückfahrt im Nachtzug konnte ich mich wieder problemlos auf zwei Sitzplätzen breit machen und hatte eine recht angenehme Nacht, die pünktlich 7 Uhr morgens in der Union Station von Washington endete. Der riesige Bahnhof, neben Los Angeles das Glanzstück im amerikanischen Bahnwesen, war zum frühen Sonntagmorgen fast wie ausgestorben. Meinen Plan, mit der U-Bahn zum Hotel zu fahren, musste ich auch schnell begraben, denn der Betrieb beginnt sonntags erst um acht. Zum Glück gab es auch einen Bus in die Richtung. Noch größeres Glück hatte ich im Hotel, dem besten auf der gesamten Reise, denn ich konnte gleich ein Zimmer beziehen.
Nach einer ausgiebigen Dusche machte ich mich auf den Weg, die Hauptstadt des Landes zu erkunden. Erwartungsgemäß war das Weiße Haus tabu, damals aber nur, weil sich Präsident Clinton kurz vor Ende seiner Amtszeit keinen Besuch an Sonntagen mehr gönnen wollte. Also ging ich weiter entlang der riesigen Mall, die wohl am eindrucksvollsten zeigt, wie eine ganze Stadt am Reißbrett entstanden ist, bis zum Lincoln Memorial mit dem schönen Blick über den Potomac River. Auf dem Rückweg füllten sich die Wiesen der Mall immer mehr mit Freizeitsportlern und Spaziergängern, die wie ich diesen wunderschönen Herbstsonntag genossen. Das spiegelte sich allerdings auch an der Schlange vor dem Washington Monument wieder. Vorbei an den vielen Museen, die ich mir wohlweislich für den nächsten Tag aufgehoben hatte, kam ich dann zum zweiten Machtzentrum, dem Kapitol, das aber ebenfalls sonntags keine Gäste empfängt. Dahinter passen sich noch der Supreme Court und die Nationalbibliothek dem typischen klassizistischen und neoklassizistischen Stil der Stadt an.
Dass der nächste Tag nur ein Jahr später zum Schicksalstag in der amerikanischen Geschichte werden würde, konnte ich natürlich noch nicht ahnen, als ich mich durch die vielen Museen Washingtons quälte, um wenigstens einen Eindruck von den vielen Schätzen zu bekommen, die dort lagern. Begonnen hatte ich mit dem National Holocaust Memorial Museum, das auf sehr neutrale, aber gleichzeitig auch eindrucksvolle und bedrückende Weise den Aufstieg Hitlers bis zur Endlösung der europäischen Judenfrage schildert. Nur ein paar Meter entfernt weist das National Museum of American History vor allem patriotische Züge auf, die in vielen Ausstellungsstücken, allen voran „The Star Spangled Banner“, zum Ausdruck kommt. Etwas kürzer fielen danach die Besuche der National Gallery of Art und des Air & Space Museum aus, in denen ich mir aus Zeitmangel vor allem die Filetstücke herauspickte.
Am Nachmittag musste ich mich auch schon wieder auf den Weg zu Bahnhof machen, um den Capitol Limited nach Chicago nicht zu verpassen. Hier erlebte ich auch zum ersten Mal, dass die Passagiere des Zuges vor der Abfahrt wie am Flughafen an einem Gate versammelt wurden und der Schaffner gleich die Fahrkarten einsammelte und Platzkarten austeilte. Mein Fensterplatzwunsch wurde zwar erfüllt, ich hatte aber keinen freien Nachbarplatz, denn der Zug war auffallend gut gebucht. Das machte aber gar nicht so viel aus wie ich dachte, denn diese Strecke wird mit den Superliner-Zügen befahren, dem wohl bequemsten Wagenmaterial, das Amtrak zu bieten hat. Das Platzangebot ist gigantisch und sogar weiträumiger als in so mancher Business Class im Flieger. Außerdem kann man mittels verstellbarer Sitzlehne sowie Bein- und Fußstützen einen bequemen Schlafsessel basteln, so dass ich nachts an meinem Sitznachbarn vorbei kam, ohne ihn zu wecken. Nur eine Decke darf man wegen der ständig laufenden Klimaanlage nicht vergessen, aber die brachte mir dann der nette Schaffner.
Wiederum erstaunlich pünktlich erreichte der Zug am nächsten Morgen den angeblich weltgrößten Bahnhof von Chicago, der aber eigentlich aus einer Ansammlung von mehreren Bahnhöfen besteht, die vor allem den Vorortzügen dienen. Vorteilhaft ist, dass alle Fernzüge aus dem Osten des Landes, wenn sie denn pünktlich sind, vormittags eintreffen und die Züge in den Westen erst am Nachmittag weiterfahren. So hat man, wie in meinem Fall, immerhin sechs Stunden Zeit für eine kurze Stadtbesichtigung. Gleich neben dem Bahnhof bot sich natürlich der Sears Tower an, um sich einen Eindruck von den Ausmaßen der Stadt zu verschaffen, was aber nicht gelang, da die Stadt nahtlos in den Horizont übergeht. Lediglich der blau glänzende Lake Michigan bietet einen schönen Kontrast dazu. Gerade im Bahnhofsbereich wirkt die Stadt wie eine abstrakte Venedig-Kopie mit dem Chicago River, den die Stadtplaner in das rasterförmige Straßennetz einfach integriert haben. Einen guten Überblick der Innenstadt gibt es auch von den berühmten Hochbahnen, die kreisförmig einmal um die komplette City fahren. Mein eigentliches Ziel war aber der Lake Michigan, an dem ich mit ein schönes Picknick gönnte. Auf dem Rückweg zum Bahnhof musste ich natürlich noch den berühmten Brunnen aus der Fernsehserie „Eine schrecklich nette Familie“ finden, der auf den merkwürdigen Namen Buckingham Fountain hört.
Die bereits bekannte Prozedur mit Einchecken am Gate wird langsam zur Gewohnheit. Vorher hatte ich mich für die lange Reise nach San Francisco mit dem legendären California Zephyr aber noch mit ein paar Litern Wasser und ausreichend Nahrungsmitteln eingedeckt, schließlich sollte ich die nächsten 50 Stunden in demselben Zug verbringen. Auch hier werden die bequemen Superliner-Züge eingesetzt und ohne Sitznachbarn hatte ich mehr Platz als mein Auto jemals hergeben wird. Entspannt genoss ich die ewig lange Fahrt durch die Vororte Chicagos bis es ins eher ländlich geprägte Iowa ging und der Zug minutenlang von Feldern eingequetscht wurde, ohne dass man auch nur einen Menschen sah, bis die Dämmerung hereinbrach und im Zug die Lichter gedimmt wurden.