MO, 23.3.2015
Heute geht es ins Abenteuer in den Dharavi-Slum.
Und so langsam erkenne ich Indien wieder, das sich mir die letzten Tage sehr zivilisiert präsentiert hat, vielleicht auch wegen meiner Abschottung hinter die Mauern meiner 5 Sterne…
Ich gehe zu Fuß zum Treffpunkt für die Tour. Noch ist es nicht so heiß, und ich möchte ein wenig Street Life mitbekommen. Heute ist Montag, deshalb ist deutlich mehr los als am Wochenende.
Am Wegesrand steht ein Mann, dessen Beine zittern. Ich denke, ach, der Arme, ist das Parkinson in dem Alter schon? Aber nein, als ich mich nochmals nach ihm umdrehe, sehe ich seine Hand sich in der Hosentasche heftig bewegen und kann mir den Grund denken. Na dann, viel Spaß noch.
Die Dharavi-Tour beginnt pünktlich. Meine Mitreisenden sind ein belgisches Paar und ein Paar aus New York. Der Guide heißt Rakesh und hat ein sehr warmes Lächeln und ist selbst in einem Slum aufgewachsen, allerdings nicht in Dharavi. Der Fahrer ist blutjung, bildhübsch und hat Glutaugen. Beide sprechen tolles Englisch und sind äußerst angenehme Zeitgenossen. Beide haben das, was viele Inder der relaxten Sorte haben: Sie lachen mit den Augen, zum Heulen schön.
Zunächst erfahren wir beim Vorbeifahren am Victoria Terminus, dass 10 Millionen Menschen täglich die Bahnen nutzen, jeden Tag sterben einige, denn sie überqueren die Gleise unerlaubt oder stürzen aus den offenen Türen der Züge. Die Züge halten für so etwas jedoch nicht an.
Wir passieren das größte Rotlichtviertel Mumbais und erfahren etwas über die Situation der Prostituierten hier in der Stadt, die teilweise wie Sklaven gefangen gehalten werden, in jedem Fall aber außerhalb der Gesellschaft leben und keine Chance haben zu ihrer Familie zurück zu kehren.
Wir bekommen erste Infos zu den Slums: Diese sind nicht die improvisierten Schutzhütten aus ein paar Stäben und Planen, wie es sie immer wieder am Straßenrand gibt, sondern Wohngebiete auf öffentlichem Grund. Wer in einem legalen Slum lebt, hat Glück, denn er hat Wohnrecht. Die illegalen Slums können jederzeit ersatzlos abgerissen werden. Außerdem gibt es in Mumbai noch die zahllosen Obdachlosen, berufsmäßige und organisierte Bettelei und etwa 250.000 Straßenkinder.
Entgegen allem, was man so landläufig denkt, wird in den Slums hart gearbeitet - wie hart, davon können wir uns heute überzeugen. Und nein, wir werden nicht angefasst, nur angestarrt, nicht angebettelt, weitgehend ignoriert.
Die Gemeinschaft hier ist eng, wie ich schon aus “Shantaram” erfahren durfte. So leben aber heute auch teilweise noch die im Slum, die es geschafft haben: Ärzte, Bankangestellte, Lehrer und Mitarbeiter aus den Hotels. Wir sind akzeptiert, da Reality Tours eine gute Beziehung zu den Bewohnern hat.
Wir halten zunächst jedoch noch an Dhobi Ghat, der größten Wäscherei Asiens. Aus ganz Mumbai wird hier die Wäsche gesammelt, nach Farben sortiert gewaschen, getrocknet. Und wie durch ein Wunder bekommt jeder die eigene Wäsche zurück, da diese mit einer Kennzeichnung nach einem System versehen wurde, das wohl nur die Wäscher selbst verstehen.
Im Slum herrscht Fotoverbot. Zwar gibt es inzwischen auch Slumtouren, bei denen man fotografieren darf, aber Reality Tours ist das Original, hat sich die Rückgabe eines Großteils der Einnahmen an den Slum auf die Fahne geschrieben, und ist eine Non-Profit-Organisation, die die Guides gut bezahlt und nicht mit der Armut der Slumbewohner Geschäfte macht. Das verdient meiner Meinung nach Unterstützung, und ich hoffe, dass das Image auch der Wahrheit entspricht.
Wir besuchen zunächst die Commercial Area. Hier wird Plastik und Aluminium recycelt. Es stinkt erbärmlich. Hier sind fast nur Männer zu sehen, die vom Land kommen und aus finanzieller Not hier arbeiten und ab und zu ihre Familien besuchen. Die Lebenserwartung derer, die hier arbeiten, ist nicht sehr hoch. Die Gifte, die hohe Unfallgefahr, und niemand ist krankenversichert. Dennoch strömen immer noch viele nach Mumbai, dem reichen finanziellen Zentrum, in dem noch Geld verdient werden kann. Wir haben vom Dach eines Plastikrecyclers einen Überblick über den gesamten Slum mit den auf den Dächern gestapelten Gegenständen, den Wellblechbaracken und den engen Gassen, in denen man verdammt aufpassen muss, dass man nicht ausrutscht und im Dreck landet.
Es schließt sich zunächst die muslimische Wohngegend an, dann die hinduistische Wohngegend. In den Wohngegenden sind mehr Frauen unterwegs, denn die Bewohner hier leben hier mit ihren Familien und verlassen den Slum zum Arbeiten. Wir erfahren, dass es hier immerhin 2 bis 3 Stunden täglich Wasser gibt, außerdem Strom, sofern er nicht ausfällt und eine Kanalisation. Außerdem gibt es Schulen, Krankenhäuser, einen Markt, Restaurants.
In den Wohngegenden gibt es außerdem nur Betriebe, die ohne Gifte auskommen. Somit ist es hier ruhiger und es stinkt weniger. So schauen wir in eine Bäckerei und eine Schneiderei, in der gerade rosa Mädchenkleider genäht werden.
An einer Ecke stehe ich im Weg, Derjenige, der mit seinem Gepäck auf dem Kopf vorbei möchte, spricht mich nicht an, sondern klopft auf ein Blechfass neben mir, aber er drängt mich auch nicht zur Seite.
Dennoch haben die winzigen Häuser, von denen wir eines besichtigen, keine eigenen Bäder, sondern es werden allgemeine öffentliche Toiletten benutzt, der Abwasserkanal stinkt und das Wasser wird ungeklärt in das Arabische Meer geleitet. Das leerstehende Haus, das wir ansehen, wird normalerweise von 4 bis 5 Personen bewohnt und hat eine Größe von insgesamt vielleicht 12 qm inklusive Ecke für den Herd und den Wassertank.
Wir gehen ein ganzes Stück durch eine enge Gasse, die fast zu Platzangst führt. Gut, dass es so spannend ist, dass ich gar nicht zum Nachdenken komme. Man kann hier wegen der herunterhängenden Stromleitungen nur gebückt gehen. Begegnen darf einem hier niemand, der Boden ist nass von der überirdisch liegenden leckenden Wasserleitung, es ist duster. Dennoch riecht es aus so mancher Behausung lecker nach Essen, manchmal aber auch deutlich unangenehmer.
Leider können wir wegen einer Trauerfeier das Community Center nicht besichtigen, aber die angrenzende Schule schon.
Es geht noch über das Gebiet der Töpfer in das Büro von Reality Tours, in dem wir online mit dem hier vorhandenen WIFI einen Rückmeldebogen ausfüllen und uns für die Zusendung eines Links zu Fotos aus Dharavi eintragen können.
https://www.flickr.com/photos/119419058@N08/sets/72157641841763365/Übrigens: Im Gegensatz zu allen Tours wird hier nicht in einem einleitenden Vortrag vor dem Verdursten und dem Tod durch Unfall gewarnt, obwohl das hier sicherlich deutlich wahrscheinlicher ist als auf einem einfachen Trail in einem amerikanischen Nationalpark. Dennoch gibt es nach der Anfahrt zum Slum und vor der Rückfahrt die Möglichkeit eine ordentliche Toilette zu besuchen und Wasser zu kaufen, und auch unterwegs kann man nochmals Wasser kaufen.
Ist die Dharavi-Tour mit Reality Tours empfehlenswert? Ja, unbedingt: Auf eigene Faust bekommt man das hier nicht zu sehen. Den Umgang des Guides mit den Bewohnern empfinde ich als respektvoll, und da die Organisation vielen Guides, die selbst aus Slums stammen, Arbeit gibt, finde ich, man muss keine Skrupel haben. Auch die Bevölkerung des Slums schien zumindest nicht gegen uns Besucher zu sein.
Schließlich hat die Tour mein Bild von den nicht arbeitenden und in ihrem Elend herumgammelnden Slumbewohnern deutlich zurecht gerückt. Und ebenso wie der unendliche Reichtum der Bewohner des Nobelviertels Malabar Hill zu Mumbai und Indien gehört, so gehört auch die Armut in den Slums zu Indien. Kein Grund das zu verschweigen, sofern der Umgang mit diesem Thema mit dem nötigen Anstand und Respekt verbunden ist.
Früher als sonst nehme ich meinen Platz auf der Poolliege ein und wasche den Staub ab. Früher als sonst habe ich daher auch genug und breche auf zu einem Bummel an den Colaba Causeway und nochmals zum Gateway of India. Nun erst merke ich, dass ich vorgestern bei meinem ersten Besuch hier noch gar nicht wirklich angekommen war. Nun erst kann ich das bunte Treiben wirklich genießen. Im Grunde esse ich heute erstmalig in diesem Urlaub so richtig indisch im Café Leopold und genieße das Dunkelwerden am kitschig beleuchteten Gateway of India.
Und nun passiert auch das, was im letzten Indienurlaub so typisch war: Ich darf gemeinsam mit den vielen indischen Touristen in die Kameras grinsen. Eine bettelnde Mutter schickt ihr kleines Mädchen hinter mir her um mir die Wasserflasche abzubetteln...
Und morgen? Morgen ist Schluss mit Indien light, morgen geht es in den Süden: Ich hoffe auf Landleben, bunte Tempel, Tee- und Gewürzplantagen. Und vor allem hoffe ich, dass der von Ashok Taxi Tours, der Agentur von Indien 2013, empfohlene Fahrer auch wirklich eine gute Seele ist.