Sonntag, 5.5.13Um halb sieben schäle ich mich langsam aus dem Bett, um halb acht stehe ich dann gestiefelt und gespornt an der Rezeption und erkläre, dass ich das Hotel zwar verlasse, aber nicht auschecke, sondern in zwei Tagen in mein bezahltes Zimmer zurückkomme. Falls der Mitarbeiter an der Rezeption das komisch findet, lässt er es sich jedenfalls nicht anmerken, sondern macht sich eine Notiz und wünscht mir einen schönen Ausflug.
Der Ausflug scheitert erst mal beinahe daran, dass alle Türen des Polos zugefroren sind. Auf dem Dach stehen zentimeterdicke Eistropfen, aber wenigstens ist die Windschutzscheibe schon aufgetaut, denn heute morgen scheint wieder die Sonne, und das tut sie schon seit dem Sonnenaufgang um kurz vor fünf. Ich bekomme die Türen dann doch auf, lade meine Sachen ein und fahre los. Unterwegs lege ich schon mal eine der CDs ein, die ich gestern gekauft habe und lausche der klaren Stimme der Sängerin, die von der Umarmung der langen schattigen Winternacht berichtet und wie sehr sie die Sonne und die Vögel herbeisehnt.
Ich fahre erst mal eine gute Stunde, während der das Wetter mehrfach zwischen sonnig und dick bewölkt wechselt und tanke dann an einer kleinen Tankstelle am Rand der Ringstraße. Erstaunlicherweise kostet der Sprit an jeder Tankstelle entlang der Strecke gleich viel, Diesel 236 Kronen und Benzin 237 Kronen. Ich tanke Diesel, aber das gelingt mir erst nach mehreren vergeblichen Anläufen, denn der Automat will, dass ich eingebe, für wie viele Kronen ich tanken will, teilt mir das aber auf isländisch mit und ich brauche ein paar Anläufe um zu merken, dass ich am Anfang des ganzen Vorgangs die Sprache auf englisch umstellen kann.
Danach geht es weiter, zuerst mit einer kurzen Stippvisite an den Seljalandsfoss.
Den Seljalandsfoss will ich aber übermorgen auf der Rückfahrt länger besuchen, wenn die Sonne „richtig“ steht und fahre weiter zum Skogarfoss. Dort gilt das Motto „Mittendrin statt nur dabei“, denn man kann ganz bis nach vorne zum Wasserfall gehen, wenn man denn nichts dagegen hat, nass zu werden. Rundherum sind Gras und Steine gefroren.
Ich erklimme anschließend noch die Stufen hinauf zum Rand des Wasserfalls.
Dann geht die Fahrt weiter: Der nächste Stopp ist der Gletscher Solheimajökull. Dort habe ich eine dreistündige Gletscherwanderung gebucht. Der Weg zum Gletscher führt über eine Schotterpiste mit vielen Schlaglöchern, und ich bin froh, als ich nach fünf Kilometern den Parkplatz erreiche. Dort trudeln in den nächsten Minuten auch die anderen Teilnehmer ein, bis wir uns schließlich auf den kurzen Fußmarsch zur Gletscherzunge machen.
Während dieses Fußmarsches bekomme ich es fertig, zu stolpern und – der Australienurlaub lässt grüßen – auf die Knie zu fallen und mir die neue dicke und angeblich regendichte Wanderhose kaputtzumachen. Auch die Knie fühlen sich leicht lädiert an, aber nach einer Schrecksekunde bin ich der Meinung, dass alles halb so schlimm war.
Wir legen die Krampen an, und die Führerin erklärt, wie wir gehen sollen, nämlich immer fest mit dem ganzen Fuß auftreten, damit die Zacken sich ins Eis bohren können. Jeder bekommt außerdem eine kleine Spitzhacke, allerdings nicht zum Hacken, sondern als kleine Balance-Hilfe an schwierigen Stellen, denn der Stiel der Hacke mündet in eine Metallspitze, und auf dem „Hackenkopf“ kann man sich wie bei einem Spazierstock abstützen. Dann machen wir uns vorbei an dem gefrorenen Schmelzwasser, das hier an der Gletscherzunge in einen kleinen See mündet, auf den Weg hinauf auf den Gletscher.
Die ersten Schritte sind noch ungewohnt, und vor allem muss ich mich daran gewöhnen, die Füße nicht vorsichtig und tastend aufzusetzen, sondern im Gegenteil fest die Krampen ins Eis zu drücken. Und das ist hier auf dem ersten Teil der Wanderung auch sehr nötig, denn der Weg ist relativ steil und führt an tiefen Spalten und Verwerfungen vorbei. Oft liegen dichte Ascheschichten auf dem Eis. Unterwegs halten wir immer wieder an, und unsere Führerin erzählt uns Details über den Gletscher, die Gletscherbildung und die Gletscher in Island im allgemeinen. Es gab zur Zeit der ersten Siedler in Island gar keine Gletscher, die Vergletscherung setzte erst mit der „kleinen Eiszeit“ im Mittelalter ein.
Schließlich haben wir den Gletscher "erklommen" und wandern auf dem relativ ebenen oberen Bereich entlang. Inzwischen kommt ab und zu die Sonne zwischen den Wolken hervor. Dann geht es langsam wieder an den Abstieg, und die Risse und Spalten im Eis werden wieder größer.
Am Schluss der Wanderung nutze ich dann die Wolkenlücken und mache noch ein paar Fotos an der Gletscherzunge, wo sich auch eine Eishöhle gebildet hat. Müde und kaputt, aber glücklich und mit einem letzten Blick auf den Gletscher marschiere ich dann zum Auto zurück. Trotz der immer noch andauernden Knieschmerzen bin ich froh, dass ich diese Wanderung mitgemacht habe. Das war bisher einer der Höhepunkte meiner Islandreise.
Schließlich fahre ich die Schotterstraße zurück zur Ringstraße und folge ihr weiter bis zur Unterkunft, die ich nicht weit von hier in der Nähe des Kap Dyrholaey gebucht habe. Dieses kleine Holzhäuschen inmitten von Wiesen und Weiden ist für heute Nacht mein Zuhause.
Nach einer kurzen Rast fahre ich weiter zum Kap Dyrholaey. Dort hat man einen tollen Blick auf den schwarzen Strand, die Klippen und die Reynisdranger, spitze Basaltsäulen im Meer.
Weiter westlich am Kap steht ein kleiner Leuchtturm, und von den Klippen aus schaut man auf dieses Felsentor hinunter.
Danach fahre ich noch weiter zum Strand Reynisfjara in der Nähe der Reynisdrangar. Leider versteckt sich die tiefstehende Sonne hinter Wolken, statt für goldene Abendstimmung zu sorgen.
Leider ist es inzwischen wieder sehr kalt und windig, und obwohl der Strand und die bizarren Felsen eine tolle Kulisse sind, will ich nicht noch eineinhalb Stunden bis zum Sonnenuntergang hier warten, sondern fahre nach einem kurzen Fotostopp an einer kleinen Kirche noch weiter bis nach Vik, um einen Blick auf die Reynisdranger von der anderen Seite aus zu werfen. Mittlerweile tun mir die Knie von meinem Sturz richtig weg. Vor allem das rechte, obwohl ich zuerst gedacht hatte, dass ich auf dieser Seite gar nicht so hart aufgeschlagen wäre.
Langsam entstehen am Himmel tolle Wolkenformationen und Lichteffekte, und obwohl ich inzwischen hundemüde bin und mein Humpeln immer mühsamer wird, will ich noch versuchen, ein paar Fotos vom Sonnenuntergang zu machen und fahre nochmal zurück ans Kap Dyrholaey. Bei diesem Himmel kann man doch nicht zurück zur Unterkunft fahren! Über mir scheinen die Wolken in Flammen zu stehen.
Als ich schließlich an den Klippen vorbei zum Auto humpele und kurz nach unten schaue, schaut etwas zurück. Huch, was ist denn das? Ein bunter Schnabel, ein weißer Bauch, das ist ein Puffin, ein Papageitaucher!
Ich kann nicht verhindern, dass mir ein verzücktes „Puffin!“ entfährt. Die Verzückung beruht allerdings offensichtlich nicht auf Gegenseitigkeit, denn der Puffin fliegt weg. Vielleicht weiß er, dass ich vor ein paar Tagen einen Kumpel von ihm gegessen habe. Aber ein paar Meter weiter sitzt noch ein anderer. Inzwischen komme ich nur noch mühsam vorwärts, weil sich mein rechtes Knie irgendwie nicht mehr richtig beugen lässt, aber wer weiß, ob ich nochmal einen Puffin sehen werde. Also kämpfe ich mich die letzten Meter zum Kofferraum, hole das Teleobjektiv, setze die ISO-Zahl hoch und gehe auf Puffin-Pirsch. Und ja, ich habe Glück:
Inzwischen ist viertel nach zehn, und selbst hier in Island ist die Sonne untergegangen. Müde komme ich schließlich wieder in meiner Hütte an und schaffe es kaum noch, die Schuhe auszuziehen. Das rechte Knie tut inzwischen auch im Sitzen und im Liegen weh, das Bein lässt sich nur in Zeitlupe beugen, und nicht weiter als bis zum 90-Grad-Winkel und ich kann mich nur noch mühsam durch die Hütte schleppen. Als ich schließlich um halb zwölf ins Bett falle, bin ich aber zu müde, um mir Sorgen zu machen, ob ich morgen wieder laufen kann.
Gute Nacht!