25.05. ChicagoGuten Morgen ruft mir die Sonne bereits durch die geschlossenen Vorhänge entgegen, es scheint im wahrsten Sinne des Wortes wieder ein wunderschöner Tag zu werden. Kurze Hosen geschnappt und raus zum Lake Michigan. In der Nähe meines Hotels befindet sich die weit in den See hinein ragende Landzunge, auf der sich neben dem Field Museum auch das Shedd Aquarium und Adler Planetarium befinden, alles Ziele, die man bei regnerischem Wetter lohnend aufsuchen kann.
Es ist noch recht frisch am Morgen, doch die Sonne versucht ihr Bestes. Ich bin zuversichtlich, das wird wieder so ein heißer Tag wie gestern.
Das Field Museum ist in einem schönen monumentalen Bau untergebracht, doch heute habe ich wie an den meisten anderen Tagen meines Lebens keine Lust auf ein Museum. Am Shedd Aquarium wieder das alte Spielchen, zig Busladungen Schüler werden zum Befüllen des Museums herangekarrt, doch würde mir dieses naturwissenschaftlich orientierte Museum um Welten besser gefallen wie das schon vor einigen Tagen erwähnte Kunstmuseum in New York. Ist natürlich Geschmackssache, aber ich lerne halt lieber etwas über faszinierende Naturvorkommnisse als den abstrakten Pinselstrichs eines Möchtegern-Künstlers zu interpretieren.
Warum ich aber eigentlich hier her gekommen bin, ist die schöne Aussicht auf Chicago’s Skyline. Am schönsten ist sie am Adler Planetarium ziemlich am Ende der Landzunge. Geschickt fotografiert meint man, man wäre auf dem Lake Michigan unterwegs. Es werden ja auch Bootstouren zu diesem Zwecke angeboten, doch hebe ich mir diese für den Herbst auf, denn in etwas mehr als drei Monaten bin ich ja wieder hier und dann auch nicht allein. Da heißt es dann, die ‚L’ etwas zu kürzen und dafür mehr ‚Touristenprogramm’ zu machen. Apropos: Heute noch gar nicht ‚L’ gefahren. Das muss gleich geändert werden, doch vorher schaue ich noch schnell mal im Hotel vorbei, denn die kurze Hose erweist sich doch nicht als die perfekte Wahl. Das Thermometer will heute einfach nicht so recht über die 14°C Marke hinaus. Echt verrücktes Wetter, gestern so heiß und heute wieder ganz anders. Meine aus New Orleans mitgebrachte Wärme scheint schon verbraucht zu sein, aber egal, Hauptsache freundlich.
Mit der Brown Line geht es hinaus nach Kimball, einer für Touristen eher nicht so interessante, wenn nicht sogar stinklangweilige Gegend, aber der Schienentransportmittelfreak kommt halt wieder stark durch. Immerhin tagsüber ist die Gegend sicher, was auf der Einkaufsstraße mit den verschiedenen ethnischen Gruppen gar nicht so rüberkommt, aber die dahinter liegenden Wohnsiedlungen zeugen mal wieder nicht von der ärmsten Bevölkerungsschicht. Ich würde sagen, gut bürgerliches Mittelmaß.
Am Bahnübergang der Station Kedzie habe ich vor 3 Jahren schon mehrere Züge der ‚L’ abgepasst und fotografiert, wie sie hier ebenerdig nahe den Häusern durch enge Zwischenräume in den Häuserzeilen fahren. Dem Bahnübergang würde es aber sicher gut tun, wenn die Gleise mal ausgetauscht werden würden. Auf eine Baustelle mehr oder weniger kommt es doch jetzt auch nicht mehr an, denn jeder LKW lässt die Schienen bedrohlich vibrieren so wie ein Gitarrist seine Saiten. Auf Dauer müssen sich die Dinger doch verformen, zumindest, wenn nicht ebenso viele LKWs in der Gegenrichtung unterwegs sind, um sie zurück zubiegen.
Zurück ist ein gutes Stichwort, ab durch die Mitte zurück in den Loop. Ich sitze ganz hinten und habe das enorme Glück, nicht nur diesen Sitzplatz, sondern vor mir auch eine sehr sauber geputzte Scheibe zu ergattern. So lassen sich einige schöne Fotos von der Strecke machen. Ab Wellington steigt dann ein Mitarbeiter der CTA zu und ich verkneife mir weitere Fotos, weil ich vor drei Jahren schon einmal bestimmt darauf hingewiesen wurde, dass man besonders in Skokie keine Fotos von den Zügen machen dürfte. Im Loop lasse ich dann aber doch wieder den ahnungslosen Touristen heraushängen und fotografiere wie ein Weltmeister, denn hier bin ich wieder unter meines gleichen.
Bei der Gelegenheit fällt mir ein, ich muss ja noch zwei Vergleichsfotos für Wolfgang’s 1924er Projekt machen. Also raus aus der ‚L’ und rein ins Getümmel der North Michigan Avenue, der exklusiven Einkaufsstraße von Chicago. Ähnlich der Fifth Avenue in New York befinden sich hier einige sehr gehobene Modeboutiquen, was der Straße den Spitznamen Magnificent Mile einbrachte.
Mir sagt die Straße zumindest im Sommer nichts. Ok, ich bin froh, dass die ganzen Glöckchen schwingende Weihnachtsmänner verschwunden sind, die in der Vorweihnachtszeit Spenden für wohltätige Zwecke sammeln. Nicht, dass ich gegen Spendenaktionen bin, aber das Gebimmel ging einem echt auf die Nerven. Wie gesagt, bin froh, dass diese Geräuschkulisse fehlt, aber anders herum gefiel mir die Straße abends im Schein der Laternen und der Weihnachtsbeleuchtung besser.
Aber ich bin ja nicht wegen der Schönheit der Straße hier, sondern, um das Vergleichsfoto zum Ausdruck des Fotos aus dem Jahre 1924 zu finden. Nur wie geht man so etwas an? Ich weiß nur, dass es sich um den Michigan Boulevard handeln soll. Stillschweigend gehe ich mal davon aus, dass die Michigan Avenue gemeint ist, aber die ist lang. Wo soll man suchen? Auf dem Foto sieht man vorne rechts eine Kirche, dahinter 2 weitere Türmchen. Kirchen werden seltener abgerissen, also konzentriere ich meine Suche auf die insgesamt 3 Türmchen. Einziges Problem: Hier befinden sich nur Geschäftshäuser und Bürotürme. Keine Kirchen weit und breit. Entmutigung macht sich breit. Bin ich auf dem falschen Abschnitt der Straße? Vielleicht doch eher südlich der Innenstadt?
Versuche ich halt mein Glück mit dem zweiten Foto, der Rechtskurve der Uferlinie am Lake Michigan. Wenn es nicht südlich des Navy Pier war, kann es doch auf dieser Landzunge selbst sein, Blick Richtung Innenstadt, doch erneut die Enttäuschung, es will einfach überhaupt nicht passen.
Zurück zur North Michigan Avenue habe ich wohl meinen Halbmarathon voll, als ich mich an einer Kirche kurz hinter dem Hancock Tower mal umdrehe. Und plötzlich passt alles. Die Kirche, der Water Tower und noch ein weiteres Türmchen. Die Kirche vorne rechts hat auch dieselbe Fensterform. Mann, das passt ja wirklich. Das muss hier sein! Auch die ansatzweise erkennbaren Geschäftshäuser im Vordergrund passen. Sie scheinen zwar renoviert worden zu sein, aber die grundsätzlichen Gesichtszüge der Fassaden stimmen.
Jetzt habe ich nur ein kleines Problem: Wie ein Foto machen? 1924 standen meine Vorgängerfotografen mitten auf der wenig befahrenen Straße, heute scheinbar ein Ding der Unmöglichkeit. Die Stelle befindet sich genau an einer Bushaltestelle, so dass ständig Busse den Blick auch vom Bürgersteig versperren. Die Straße besitzt an dieser Stelle anstatt einer Mittelstreifenbebauung nur eine durchgezogene Linie und das ist mir bei diesem Verkehr doch etwas zu riskant. Also versuche ich es von verschiedenen Positionen, hinter dem Bus, auf der Fußgängerinsel, auf dem Standstreifen, von der nächsten Ecke – aber es will einfach nicht so richtig passen. Doch mein Jagd-Instinkt ist geweckt. Irgendwann durchschaue ich die Ampelschaltung. Nach dem Querverkehr sind erst die südwärts fahrenden und Linksabbieger an der Reihe, erst danach die Autoflut über meinen potenziellen Fotostandpunkt.
Mit ein wenig Geduld passe ich einen Augenblick an, wo gerade kein Bus an der Haltestelle steht, kein Abbieger aus der Querstraße mich umfahren kommt und endlich bekomme ich das Bild auf die Reihe.
Und das Beste: Unsere 1924er Vorfahren haben völlig ahnungslos eine Stelle der North Michigan Avenue erwischt, die auch heute noch von vielen Urlaubern fotografiert wird, befindet sich doch ein Hauch links vom gewählten Motiv heute der 1969 fertig gestellte Hancock Tower, von dem sie 1924 noch gar nichts wissen konnten.
Nur wenige hundert Meter weiter finde ich eine weitere Rechtskurve in der Uferlinie des Lake Michigan. Auch, wenn ich nicht wirklich hundertprozentig davon überzeugt bin, so macht diese Stelle von allen besuchten bisher den meisten Sinn, liegt sich doch auch nur zwei Katzensprünge vom anderen Standort entfernt. Ich fühle mich irgendwie wie ein kleiner Schneekönig.
Und wenn ich schon mal so weit nach Norden gelaufen bin, kann ich auch gleich weiter ins Deutsche Viertel, auf die Schiller Street und der Goethe Street. Die Gegend sieht nicht schlecht aus, aber einen großen deutschen Einfluss kann ich mal wieder nicht erkennen. Bis eben auf die Straßennamen. Schade, vielleicht suche ich auch nur mit Scheuklappen, denn ich habe mal wieder einen schönen Oldtimer entdeckt und vergesse alles um mich herum. Ich habe zwar keine große Ahnung davon, aber ich finde so alte Autos einfach irgendwie cool.
Ein alter Stadtteil, wenn nicht sogar der Ursprung Chicagos, ist gleich um die Ecke. Naja, zumindest, was Amerikaner alt nennen. Das Viertel rund um die North Wells Street wirkt zwar gepflegt, gibt aber sonst nicht so wirklich viel her. Ist wohl eher etwas für den gelangweilten Chicago-Besucher, der schon alles andere gesehen hat.
Ich habe zwar die ‚L’ auch schon bis in alle Einzelheiten gesehen, aber sie ist ja noch immer ein Transportmittel und als solches werde ich sie jetzt auch wieder benutzen. Ab zurück in die Innenstadt, es dämmert langsam und ich will zur blauen Stunde die Skyline vor dem Adler Planetarium fotografieren.
Ungeduldig stehe ich auf dem Bahnsteig, nur es kommt keine Bahn. Auch kein Opel, denn die fahren laut einer sehr alten Werbung ja wie auf Schienen. Nichts. Niente. Null, Nothing.
Mit einem Wort: Gar nichts! Wegen den Baustellen darf ich eine halbe Stunde auf meine Bahn warten, nur leider weiß man so etwas ja nicht vorher. Man denkt ja immer, jetzt hat man schon so lange gewartet, jetzt muss sie doch jeden Augenblick kommen und ich bin sicher, hätte ich die Station vorzeitig verlassen, um mir eine Busverbindung zu suchen, garantiert wäre dann die Bahn sofort eingefahren.
Am Adler Planetarium ist es ruhig geworden. Die Museen rundherum sind längst geschlossen und so gehört die Halbinsel verliebten Paaren, die irgendwo Ruhe suchen, sowie zahlreichen Fotografen, die ein gutes Bild suchen. Überall stehen Stative herum und da packe ich doch einfach meines noch hinzu. Und morgen denkt ein jeder, überall wären die Maulwürfe im Dreieck gesprungen, wenn man die von den schweren Stativen hinterlassenen Löcher entdeckt.
Vom Gefühl her würde ich zwar sagen, es müsste noch einen Tick dunkler werden, aber man kann ja schon mal ein Probebild machen, ob der Standort stimmt. Das Ergebnis überrascht mich: Perfekt! Gut, dass ich nicht noch länger gewartet habe.
Nach 20 Minuten oder umgerechnet 30 Fotos und ein halbes Sandwich mache ich mich auf den Rückweg und habe irgendwie die blöde Idee, noch einen Umweg zum Buckingham Fountain zu machen. Weiß auch nicht, woher ich diese Eingebung habe. Irgendwie wünsche ich mir, dass dieser in der Nacht angestrahlt wird und ich soll diesbezüglich nicht enttäuscht werden.
Patriotisch wird gerade im Hintergrund Stars and Stripes gespielt, aber erst viel zu spät realisiere ich, dass Musik und Brunnen aufeinander abgestimmt sind und dies Musikstück auch mal zu Ende geht. Tusch, letzter Ton und die Mittelfontäne stellt ihren Betrieb bis zur nächsten Vorstellung zur nächsten vollen Stunde ein. Grrr. Na warte, dir werde ich im Herbst Beine machen.
Aber alles in allem bin ich schon fast froh, nicht nach St. Louis gefahren zu sein. Wie hätte ich sonst all das in den wenigen Stunden schaffen sollen, die mir morgen noch in Chicago bleiben werden? Außerdem werde ich morgen kaum Zeit für geplantes Programm haben, denn es erfüllt sich ein kleiner großer Wunsch von mir, der meine ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen wird.
Übernachtung: Best Western Grant Park, Chicago
Bewertung: gut