Mittwoch, 27.7.16Ich habe schlecht geschlafen und döse schon vor mich hin, bevor der Wecker um 7.00 Uhr klingelt. Mein persönlicher Shuttleservice holt mich eine Dreiviertelstunde später ab und bringt mich zu meinem üblichen Bahnhof. Es ist Ferienzeit, der Zug ist kaum gefüllt, und auch im Verlauf der Fahrt steigen nur wenige Fahrgäste zu. Ich erreiche den Frankfurter Flughafen wie geplant und sogar das Bus-Shuttle, das derzeit zwischen den Terminals eingesetzt wird, weil an der Bahn zwischen den Terminal gearbeitet wird, steht schon abfahrbereit an der Haltestelle.
Ich fliege heute mit Icelandair nach Reykjavik und weiter nach Denver. In der Warteschlange am Schalter komme ich mit einem Ehepaar aus Washington ins Gespräch, wir plaudern nett, ich bin guter Dinge, alles scheint reibungslos zu klappen. Denke ich jedenfalls, bis mich dann der Mitarbeiter am Schalter darauf hinweist, dass der Flug nach Island etwa eine halbe Stunde Verspätung haben wird und mir erklärt, ich müsste am Flughafen in Island rennen, um den Anschlussflug zu bekommen. Aber keine Bange, ich bekäme natürlich eine Übernachtung in Island bezahlt, wenn das nicht klappt. Das betont er so, als hätte ich gerade den Sechser im Lotto gezogen und könnte mir nichts schöneres vorstellen, als auf dem Weg in den Urlaub auf halber Strecke eine Zwangsübernachtung einzulegen.
Ich bin erst mal ein bisschen konsterniert, aber was solls, ich kann jetzt eh nichts dran ändern, und wer weiß, ob die Infos in Frankfurt überhaupt stimmen. Woanders hatte ich gelesen, dass die Flieger in Island auf die Zubringer aus Europa warten, das würde ja auch Sinn machen. Das nette Ehepaar aus Washington, das etwas älteren Baujahrs ist, hat am Nachbarschalter auch die Aufforderung erhalten, in Island zu rennen oder kostenlos zu übernachten. Es hört sich fast an, als könnte man sich in Island frei nach aktueller Laune für einen Weiterflug oder einen bezahlten Stopover entscheiden.
Was die Verpflegung an Bord angeht, ist Icelandair allerdings nicht so freigiebig. Da kann man sich nämlich nur Snacks kaufen, kostenloses Essen gibt es nicht. So breche ich heute mal mit der Urlaubstradition und esse am Terminal 2 Pasta Arrabbiata, um schon mal was im Bauch zu haben. Nach der Sicherheitskontrolle laufe ich noch ein wenig ziellos durch den Duty-Free-Shop und die Gänge entlang, bis ich am Gate wieder das nette Ehepaar treffe. Wir machen uns gegenseitig Mut, dass wir unsere Weiterflüge erreichen werden. Sie haben immerhin 5 Minuten mehr Zeit als ich, aber ob das im Ernstfall was bringt?
Immerhin öffnet das Gate mit nur 20minütiger Verspätung, irgendwann sehen wir vom Wartebereich dann auch unseren Flieger eintrudeln, aber wie das Schicksal es will, ist das Gate aufgrund der Verspätung nicht frei und wir müssen schließlich mit Bussen zum Flieger, der etwa 100 Meter von uns entfernt steht. Die Zeit verrinnt, die Verspätung beträgt schon über eine halbe Stunde und der Flieger füllt sich immer noch. Schließlich dürfen wir dann doch zur Startbahn und heben zügig ab.
Der Captain macht uns mit der Ansage Mut, dass wir 3 Stunden 15 Minuten fliegen werden, also 20 Minuten kürzer als eigentlich geplant. Das müsste doch reichen. Ich bin ganz zuversichtlich, schaue ein wenig aus dem Fenster, und irgendwann fallen mir die Augen zu. Alles ist gut.
Mitten in dieses Alles-ist-Gut-Gefühl senkt sich auf der rechten Seite plötzlich der Flügel ab: Wir sind in eine relativ enge Kurve eingeschwenkt. Auf der Karte auf dem Monitor sehe ich, dass wir nach Norden abdrehen. Hm, vielleicht müssen wir nur ein Stück weiter nach Norden und schwenken gleich wieder nach Westen ein, denke ich noch. Wir sind gerade irgendwo nördlich der Shetland-Inseln, vielleicht müssen wir auf eine andere Flugroute. Aber der Flügel bleibt unten und unten und unten bevor er sich endlich wieder hebt, und nach kurzer Zeit sehe ich auf der Karte, dass wir jetzt plötzlich wieder exakt in die Gegenrichtung fliegen.
Mir wird irgendwie ganz anders. Ich weiß nicht, ob es dann den Anschlägen liegt, die in dieser Woche in Deutschland verübt worden sind, aber ich bin mir plötzlich sicher, dass unser Flugzeug gerade entführt worden ist. Und wenn nicht entführt, dann geradewegs auf dem Weg in eine Notwasserung. Ich überlege tatsächlich, wie ich im Fall des Falles die Arme gegen den Vordersitz legen kann, damit ich sie mir nicht breche und noch in der Lage bin, den Sicherheitsgurt zu öffnen und vor der Flutung aus dem Flugzeug zu flüchten, und bewundere mich gleichzeitig für meine Abgeklärtheit. Klingt im nachhinein albern, ist aber so. Dann versucht mein Gehirn mir noch andere Möglichkeiten vorzuschlagen: Medizinischer Notfall an Bord? Kleinere technische Probleme, die lieber im nahen Norwegen überprüft werden sollten? Aber warum kommt dann keine Durchsage?
Dann senkt sich die Flügelspitze wieder, wir schwenken auf eine Kreisbahn und sind bald wieder auf Kurs. Ich atme durch und schimpfe mit mir. Warum habe ich so schnell in den Wir-werden-alle-sterben-Modus geschaltet? Dann senkt sich die Flügelspitze wieder: Wir biegen erneut nach rechts ab und nehmen Kurs in die Gegenrichtung. Also doch, es ist etwas passiert.
Jetzt endlich gibt es eine Durchsage des Captains, die wenig vertrauenserweckend mit einem langgezogenen „Welll...“ anfängt und dann in unheilvoller Nachbarschaft Worte wie „lost“ und „control“ beinhaltet. Huch, welche Kontrolle? Vielleicht können wir nur noch nach rechts fliegen? Was ist denn los? Immerhin bleiben wir auf gleicher Höhe, denke ich mir, das kann dann ja wohl doch kein Sinkflug zum Notwassern sein.
Kurze Zeit später beweist das Flugzeug dann aber, dass es doch in die andere Richtung fliegen kann, denn jetzt wandert der rechte Flügel in den Himmel, und wir schwenken in eine Linkskurve ein. Ein paar Minuten, dann sind wir wieder auf Kurs Richtung Island. Ich atme durch, also wohl doch alles in Ordnung? Die Lösung kommt dann wenig später: Wir haben keine Kontakt zur Flugkontrolle in Island herstellen können, deshalb die Warteschleifen mitten auf der Flugstrecke. Der Captain entschuldigt sich und kündigt an, wir würden Island etwa 20 Minuten später erreichen. Also um 16.20 Uhr. Mein Weiterflug soll um 16.45 Uhr starten. Den schaffe ich also nicht, aber das ist mir im Moment egal. Ich bin einfach nur erleichtert darüber, dass man meine Leiche heute nicht aus dem Nordatlantik fischen wird.
Auf dem Weiterflug kündigt eine Stewardess an, dass wir wohl noch nähere Informationen vom Captain über den Weiterflug bekämen. Und eine halbe Stunde vor der Landung gibt es dann wirklich die erhoffte Info: Alle Anschlussflüge nach Nordamerika werden erreicht, und wir müssen nicht mal rennen, und unser Gepäck kommt auch noch mit. Super, so schnell kann es heute gehen: Eben noch fast gestorben, jetzt die Freude, weil ich samt Koffer heute doch noch nach Denver komme.
Frohgemut hüpfe ich in Island in den Shuttlebus zum Terminal, schaue kurz aufs Schild mit der Ankündigung unseres Gates und marschiere zur Passkontrolle. Und was ist hier los? Man weist die Passagiere ab. Im Moment geht nur ein Flug nach San Francisco. Die anderen Flüge sind verspätet. Wir sollen in einer Stunde nochmal kommen.
Ich schaue mir die Anzeigetafel genauer an: Tatsächlich: Sämtliche Flüge nach Nordamerika sind auf 19.30 Uhr verschoben. Ja, okay, jetzt verstehe ich, warum der Captain sich so sicher war, dass wir alle samt Gepäck den Weiterflug erreichen würden.
Ich treffe das Ehepaar aus Washington wieder, wir spazieren ein wenig gemeinsam über den Flughafen, aber irgendwann trennen sich unsere Wege: Das Erlebnis vom Flug hat Spuren hinterlassen, ich fühle mich plötzlich völlig erschöpft und will keinen Smalltalk mehr machen, sondern mich nur noch alleine irgendwo hinsetzen. Ich finde schließlich im völlig überfüllten Abflugbereich einen Platz auf einer Treppe, hole das Laptop aus dem Rucksack und tippe schon mal die ersten Eindrücke dieser Reise. Dabei fühle ich mich, als wäre ich nach einer Katastrophe hier gestrandet. Mir kommt sogar kurzzeitig der Gedanke, wieder nach Hause zu fliegen. Ich muss mir klarmachen, dass eigentlich gar nichts passiert ist und dass mir außer einer dreistündigen Verspätung bisher keine Probleme entstanden sind.
Als ich mich schließlich gegen sieben Uhr in die Schlange am Gate stelle, bekomme ich um mich herum mit, dass es auch mit anderen Flügen aus Europa Probleme gab. Ein Flug aus London ist anscheinend auch erst einmal wieder abgedreht, ein Flieger aus Manchester musste sogar in Glasgow landen. Anscheinend gab es massive Probleme mit der Flugkontrolle, und aus diesem Grund haben sich wohl die Weiterflüge derart verspätet. Aber warum Icelandair nun parallel mindestens fünf oder sechs Flüge angesetzt hat und sich alle Passagiere im kleinen Abflugbereich drängen müssen, erschließt sich mir irgendwie trotzdem nicht.
Das Boarding beginnt, und wie könnte es anders sein, steht unser Flieger natürlich auf einer Außenposition und wird mit Bussen angefahren. So dauert es letztlich dann doch bis kurz vor halb neun, bis wir uns endlich auf den Weg zur Startbahn machen und abheben. Immerhin drückt der Captain aufs Gas und kündigt eine Flugzeit von sechseinhalb Stunden an, so dass wir gegen 21 Uhr in Denver angekommen sollen statt wie ursprünglich geplant um 18.30 Uhr.
Als wir in der Luft und Richtung Ziel unterwegs sind, werde ich ruhiger. Alles ist gut. Mir fallen erst mal die Augen zu, aber immerhin gibt’s dann über Grönland wieder tolle Ausblicke auf Gletscher und Eisberge, bevor eine Wolkendecke sich zwischen uns und das Meer schiebt.
Ich döse vor mich hin, schaue mir Filme und Serien an, höre Musik, fülle mein Zollformular aus, döse wieder und esse schließlich noch den mitgebrachten Schokoriegel. Essen in Form von Snacks gibt es auch auf dem Flug in die USA nur gegen Bezahlung. Schließlich geht langsam die Sonne unter, und im Zwielicht kann ich aus dem Fenster ein ganzes Stück neben uns riesige Gewitterwolken und Blitze erkennen. Hm, mal sehen, wie das Wetter in Wyoming morgen so wird, das hier sieht ja schon mal heftig aus.
Auf dem Flug haben wir dann doch irgendwie an Geschwindigkeit verloren und landen schließlich statt um neun erst um kurz vor halb zehn in Denver. Vorher kann ich immerhin schon mal das beleuchtete Capitol und das Baseballstadium von Denver erkennen. Und mich verblüfft, wie weit Denver sich zieht, ich hatte mir das kleiner vorgestellt, aber bis zum Horizont erstreckt sich ein Netz aus Lichtern.
Im Flughafen selbst scheint schon alles auf Abendbetrieb geschaltet zu haben. Unser Flug ist der einzige, der an den Immigration-Kiosken angekommt, ich werde sofort an einen Kiosk gewiesen, und abgesehen davon, dass das Bild, dass ich da von mir selbst machen muss, äußerst dämlich aussieht, klappt die Bedienung ganz gut, ohne dass man Pass- oder Adressdaten erneut mühsam eingeben müsste. Dumm nur, dass der Zettel, den der Automat dann ausspuckt, meine Angaben mit einem großen X durchstreicht. Wahrscheinlich darf ich jetzt doch nicht in die USA, aber irgendwie ist mir das im Moment schon alles egal, so müde bin ich. Zum Glück hat das große X über meinen Angaben dann aber keine negativen Auswirkungen, das Interview beim Immigration Officer ist kurz und nicht mal meine Angaben, alleine einzureisen und drei Wochen im Land zu bleiben, sorgt für Stirnrunzeln. Ich bekomme meinen Stempel in den Pass und auf den Zettel, muss dann auch noch beim Immigration Officer meine Zollerklärung abgeben, hm, ich dachte die wäre durch den Kiosk überflüssig, aber vielleicht will er sie ja nur wegwerfen? Eigentlich auch egal.
Das Gepäck lässt noch ein wenig auf sich warten, aber zum Glück ist mein Koffer bei den ersten, ich gebe den Zettel aus dem Automaten beim Zoll ab und dann bin ich endlich richtig in den USA angekommen.
Zum Car Rental muss ich mich durchfragen, das ist nämlich entweder gar nicht ausgeschildert oder ich bin zu dämlich, um die Schilder zu finden oder man fasst es hier großzügig unter Ground Transportation. Ich habe zum ersten mal ein Auto bei Budget angemietet, das Shuttle dorthin kommt zum Glück schnell an der vorgesehenen Haltestelle an, und gemeinsam mit mehr Menschen als erhofft stürme ich wenig später die Anmietestation. Ja, hier ist einiges los, aber entgegen von dem, was ich an kritischen Berichten gelesen hatte, sind fünf oder sechs Schalter besetzt, und nach einer halben Stunde Wartezeit bin ich dran. Vorher konnte ich schon einige Male die üblichen Sie-haben-so-viel-Gepäck-und-brauchen-ein-größeres-Auto-Gespräche und ähnliches mit anderen Kunden anhören, und bin erstaunt, wie oft Kunden da tatsächlich noch umgebucht haben.
Dafür dauert es dann bei mir ewig, weil der Ich-lerne-noch-Chef, der sich meiner annimmt, weder mit meinem deutschen Führerschein, noch mit der Prepaid-Buchung über Drittvermittler klarkommt und einen Angestellten zu Hilfe rufen muss. Ich bekomme dafür weder Upgrade-Angebote, noch Versicherungs-Angebote noch Auftank-Angebote, sondern kann schließlich mit dem Mietvertrag die Parkbucht A22 aufsuchen, wo ein blau-glitzernder Ford Focus auf mich wartet. Zum Glück habe ich das Hotel im Navi einprogrammiert, und das Navi findet sich hier schnell zurecht, denn in der Dunkelheit wäre ich hier ansonsten völlig überfordert, und dem Notfall-Ausdruck von Google-Maps entspricht das ganze hier irgendwie auch nicht.
Ich fahre also dem Navi nach, bin erst mal ganz entspannt und merke plötzlich, dass ich kein Licht angeschaltet habe. Super, das hätte der Typ bei der Ausfahrt mir ja vielleicht sagen können. Ich reiße das Auto also auf der Zufahrt zur Schnellstraße auf den Randstreifen und finde zum Glück nach kurzer Zeit das Licht. Inzwischen bin ich nassgeschwitzt, ich hätte vielleicht heute abend doch erst mal mit dem Taxi ins Hotel fahren sollen und morgen früh das Auto abholen. Aber irgendwann komme ich dann doch im Ramada in der Nähe des Airports an, checke ein und bin dann gegen viertel vor zwölf im Zimmer, völlig kaputt, gleichzeitig aufgekratzt und halb verdurstet, so dass ich mir erst mal zwei Flaschen Cola aus dem Automat ziehe, bevor ich ins Bett falle.
Letztlich sieht die Gesamtbilanz des Tages doch ganz positiv aus: Ich bin nicht gestorben, ich bin samt Gepäck und Mietauto heute im Hotel angekommen, und morgen werde ich einfach mal entspannt schauen, wozu ich nach dem stressigen Anreisetag noch so fähig bin.
Gute Nacht!