6. April: Kyoto – Nara - KyotoHeute morgen wache ich wieder vor dem Wecker auf, verlasse gegen viertel vor acht bei leider ziemlich trübem Wetter das Hotel und fahre mit der U-Bahn zum Hauptbahnhof. Heute will ich mit dem Zug nach Nara, aber davor steht noch ein Besuch am Toji-Tempel auf dem Programm. Der Tempel liegt vom Bahnhof aus gesehen in südwestlicher Richtung. Leider nehme ich den Hauptausgang im Norden des Bahnhofs und muss erst mal ein gutes Stück laufen, um überhaupt um den Bahnhof herumzukommen. Von hier aus geht es noch etwa 10 Minuten weiter, und dann ist das Tempelgelände erreicht. Den Tempel will ich mir aber eigentlich nicht anschauen. Stattdessen gehe ich auf den Flohmarkt. Der findet zweimal monatlich am Tempelgelände statt, unter anderem am ersten Sonntag im Monat.
Auf dem Flohmarkt halte ich nach Yukatas, Kimonos und Obis Ausschau. Den Tipp, dass man solche Dinge auch günstig gebraucht kaufen kann, habe ich aus dem Internet, und schon bald ist ein Stand mit Kisten voller Stoffe gefunden. Da gibt es das gesuchte, und weil hier auch die Japanerinnen eifrig schauen, kann es ja nicht so verkehrt sein, etwas zu stöbern. Tatsächlich finde ich dann einen schönen Kimono (oder Yukata, die „Freizeitversion“ eines Kimonos), und als ich die Händlerin nach einem Obi frage, sucht sie einen passenden für mich heraus. Jetzt bin ich mal gespannt, was das kostet, irgendwo an einer Kiste stand was von Y 1000, aber kann das denn sein? Ja, tatsächlich kosten die beiden Teile zusammen gerade mal Y 2000, etwa 15 Euro, das hätte ich jetzt nicht gedacht.
Von der Tempelpagode mache ich dann doch noch ein Foto, schließlich blühen hier die Kirschbäume zu schön, um ohne Foto zu gehen.
Dann marschiere ich fröhlich mit meiner Beute zurück zum Bahnhof, sperre die Tüte in ein Schließfach und hetze zum Zug nach Nara, den ich gerade noch erreiche. Hier wollte ich eigentlich auf der ca. 50minütigen Fahrt gemütlich die unterwegs gekauften „Kaffeestückchen“ frühstücken, aber der Waggon ist voll, ich muss stehen, frühstücke zwar trotzdem, aber gemütlich ist das natürlich nicht gerade.
Als der Zug kurz vor Nara ist, fängt es leider an zu regnen, und zwar so richtig. Es scheint heute wieder typisches Aprilwetter zu werden. Im Bahnhof findet sich netterweise sofort ein Hinweisschild, dass der Bus Richtung Nara-Park und Todaiji-Tempel am Busstop 1 abfährt, und draußen lässt sich dieser Busstopp mit einem Lageplan auch schnell finden. Ich hüpfe in den Bus und finde Platz neben einem japanischen Paar. Er spricht gut englisch und rät mir, nicht wie geplant am Anfang des Nara-Parks auszusteigen, sondern gleich weiter bis zum Todaiji zu fahren. Recht hat er, denke ich, am Anfang des Nara-Parks kann ich ja immer noch auf dem Rückweg vorbeigehen.
Als ich aussteige, tröpfelt es zum Glück nur noch. Trotzdem ist der Todaiji aber erst mal vergessen, denn hier laufen viele süße Rehe auf dem Rasen, auf den Straßen und zwischen den Leuten umher und betteln die Besucher an. Mit sprichwörtlich rehäugigem Blick scheinen die Tiere zu sagen: Schau mal, wie lieb ich gucken kann. Kaufst du mir einen Keks?
Natürlich kaufe ich Kekse, die gibt es hier in Nara schließlich extra für die Rehe. Man soll zwar aufpassen, weil die Rehe durchaus energisch die Kekse herausverlangen können, aber so schlimm kann das ja wohl nicht sein, denke ich noch, und dann geht alles sehr schnell. Kaum habe ich die Kekse in der Hand, kommt Leben in die Tiere. Eben waren sie noch kawaii, jetzt mutieren sie zu Bestien. Ein Reh, dem es nicht schnell genug gehen kann, beisst mir kräftig ins Hosenbein und zieht daran. Innerhalb von Sekunden bin ich alle Kekse los und froh, dass alle Finger noch dran sind.
Ich gehe weiter zum Todaiji-Tempel. Wenn man irgendwo ein lautes Quietschen hört, kann man sicher sein, dass die Rehe sich neue Opfer gesucht haben. Einige lungern direkt neben den Verkaufsstationen für die Kekse herum, andere stehen erhöht am Rand und betrachten die Leute wie Löwen eine Antilopenherde. Und einige von ihnen werden auch auf Hochzeitsfotos verewigt.
Schließlich ist aber der Todaiji-Tempel erreicht. Der wurde schon 752 gegründet. Das Gebäude stammt zwar nicht aus dieser Zeit, sondern von 1692. Aber wer es heute sieht, kann kaum glauben, dass die ursprüngliche Halle noch um die Hälfte größer war als das heutige Gebäude. Groß muss die Halle vor allem deshalb sein, weil sie den größten Bronze-Buddha Japans beherbergt, der mit 15 Metern fast zwei Meter größer ist der Buddha in Kamakura. Die geöffnete rechte Hand soll so groß sein wie ein Mensch. Rechts und links sitzen zwei Boddhisattvas.
Richtig klar wird mir die Größe des Daibutsu allerdings erst, als ich im hinteren Teil der Tempelhalle zu der Säule komme, in der ein Durchlass von der Größe des Nasenlochs des Großen Buddhas ist. Die Japaner stehen hier mal wieder Schlange, denn wer zierlich genug ist, kann durch den Durchlass kriechen. Kinder kommen hier noch leicht durch, aber es probieren auch andere Leute, die das vielleicht besser gelassen hätten.
Netterweise kommt nach dem Tempelbesuch wieder kurz die Sonne heraus und ich schieße meine Lieblingsbilder des heutigen Tages.
Dann wage ich wieder hinaus zu den wilden Tieren.
Ich gehe weiter und erreiche den Nigatsudo, einen schönen Tempel am Hang mit einigen Laternen. Direkt daneben stehen die Sangatsuo-Halle und ein Schrein, der anscheinend neu errichtet wurde. Leider beginnt es wieder zu regnen, und ich flüchte mich relativ schnell in die Sangatudo-Halle, in der einige hölzene Buddha-Statuen stehen. Fotos sind hier leider nicht erlaubt, schade.
Auf dem weiteren Weg durch den Nara-Park trifft man dann natürlich wieder auf die eigentlichen Hausherren, mal in mehr, mal in weniger natürlicher Umgebung.
Der Weg führt jetzt zum Kasagu-Taisha-Schrein. Der ist berühmt für die viele Laternen entlang des Weges und auf dem Schreingelände, die von Pilgern gespendet wurden. Gegründet wurde der Schrein ähnlich wie der Todaiji-Tempel schon zu der Zeit, als Nara die Hauptstadt Japans wurde, die Gebäude wurden aber regelmäßig neu errichtet.
Gerade findet hier eine shintoistische Trauung in der nach allen Seiten offenen Halle statt. Sehr romantisch kann das ja eigentlich nicht sein, umringt von knipsenden Touristen. Aber das ist wahrscheinlich der Preis, den man für eine Trauung in einem solch prominenten Gebäude zahlt.
Übrigens ist der Schrein „schuld“ daran, dass es hier in Nara etwa 1200 Rehe gibt. Die Götter, die im Schrein verehrt werden, reiten nämlich auf Rehen oder Hirschen, deshalb gelten die Tiere schon seit damals als Götterboten und heilig und dürfen nicht gejagt werden.
Nach dem Besuch des Schreins gehe ich wieder zurück Richtung Ortszentrum Nara und komme wieder am shopgesäumten Weg zum Todaiji vorbei. Ein bisschen Hunger hätte ich ja schon, denke ich mir und finde netterweise einen Stand mit Wurst am Spieß.
Während ich die Wurst esse, taucht prompt so ein heiliges Reh vor mir auf und will auch ein Stück. Ich hatte ja immer gedacht, Rehe wären Vegetarier, aber ich hatte ja auch immer gedacht, Rehe wären scheu. Hier in Nara scheint so manches anders zu sein. Als ich nicht reagiere, schiebt das Reh mir fordernd den Kopf entgegen. Weil ich keine Lust habe, quietschend wegzurennen, gebe ich ihm einen Klaps mit dem Plastiktablett, das ich zu der Wurst bekommen habe. Ich hatte mich ja schon gewundert, warum man überhaupt zu einem Essen am Spieß ein Tablett bekommt, aber jetzt bin ich froh, dass ich mich zur Wehr setzen kann. Das Reh trollt sich beleidigt. Aber ein heiliges Tier zu schlagen hat sich bestimmt nicht positiv auf mein Karma ausgewirkt.
Eigentlich wollte ich in der Nähe des Todaiji-Tempels noch einen oder zwei Gärten besuchen, aber es fegt gerade ein derartig schneidender Wind durch die Straßen, dass ich stattdessen lieber Richtung Stadt gehe und mir den Kofukuji-Tempel anschaue.
Hier kann man sich die Tempelhalle und die Schatzkammer anschauen, und weil ich friere, kaufe ich mir das kombinierte Ticket für beides. Fotos sind in den Gebäuden leider nicht erlaubt, was sehr schade ist, denn die großen Statuen von Buddhas und Wächtern sind absolut sehenswert und ich habe die Befürchtung, dass ich am Ende dieses Urlaubs alles vergessen haben werde, was nicht auf Foto gebannt wurde.
Zum Abschluss schaue ich mir noch die achteckige, zum Kofukuji-Tempel gehörende Halle an.
Dann gehe ich durch den Nagamachi-Distrikt zurück zum Bahnhof. Hier gibt es Süßigkeiten, Kunst und Kitsch, und vor allem hat jeder Laden irgendetwas im Angebot, was mit Rehen zu tun hat. Um zwanzig vor fünf erreiche ich schließlich etwas abgekämpft den Bahnhof von Nara und nehme den Zug um kurz vor fünf zurück nach Kyoto.
Als ich am Hauptbahnhof Kyoto ankomme, hole ich erst meine Beute von heute morgen aus dem Schließfach und bin erleichtert, dass ich das Schließfach überhaupt wiederfinde. Der Bahnhof ist doch groß, um es mal vorsichtig zu formulieren.
Dann will ich mir ein nettes Restaurant zum Essen suchen, westliche Küche angenehm, muss aber nicht sein. Nichts gegen die Sushi-Box gestern oder die Wurst vorhin, die haben gut geschmeckt, aber im Moment bin ich es leid, ständig nur Snacks zu kaufen und im Zug oder im Hotel oder unter der Argusaugen eines Rehs zu essen. Ich möchte mich heute abend einfach mal für eine halbe Stunde hinsetzen und in Ruhe eine warme Mahlzeit zu mir nehmen, die nicht aus Suppe besteht. In Gedanken schwelge ich schon in Pizza und Pasta.
Nach ein bisschen Suchen ist im Bahnhofsgebäude im 11. Stockwerk über einem riesigen Kaufhaus die Restaurant-Etage gefunden, die vielfältige Auswahl verspricht. Optimistisch fahre ich mit dem Aufzug hoch, und da gibt es tatsächlich vielfältige Auswahl, aber vor jedem Restaurant lange Schlangen. Damit habe ich jetzt nicht gerechnet. Wo kommen denn bloß diese vielen Leute her. Es ist gerade mal sechs Uhr, da können die doch noch nicht alle Hunger haben!
Ziellos wandere ich die Restaurants entlang, aber überall das gleiche Bild, und ich mag mich im Moment wirklich nicht in eine Schlange stellen, ich bin müde, ich bin hungrig und meine Füße qualmen.
In der unterirdischen Passage nördlich des Bahnhofs sieht es genauso aus. Volle Passagen, volle Shops, volle Restaurants. So langsam gehen mir die Menschenmassen auf den Keks. Was ich eine Woche lang als selbstverständlich hingenommen habe, geht mir jetzt gehörig auf die Nerven. Warum bleiben die nicht einfach alle mal zuhause?
An einer Theke kaufe ich mir frustriert zwei fritierte gefüllte Riesenkroketten, damit ich wenigstens irgendwas habe, dann suche ich den U-Bahnhof und fahre in der vollen U-Bahn die zwei Stationen zum Hotel. Als ich aussteige, bin ich auf Krawall gebürstet. Weil Richtung Nordausgang geschätzte 1000 Leute gehen, zum Südausgang aber nur fünf, gehe ich auch zum Südausgang, dabei muss ich doch nach Norden. Aber ich habe im Moment keine Lust, mich mit dem Pulk durch die U-Bahn-Station zu schieben, da gehe ich lieber ein Stück oben an der Straße entlang. Das tue ich dann auch, und hundert Meter vom Hotel entfernt mache ich einen letzten Versuch, etwas zu essen zu finden und biege in ein Gebäude ab, in dem es Shops und Restaurants geben soll. Sofort sehe ich eine Brasserie, dort gibt es leere Tische, ich kann mich sofort setzen, das gibt’s ja wohl nicht! Die Kellnerin bringt mir die Karte und schenkt mir ein Wasser ein, ich atme tief durch und bestelle Bier und ein Rindersteak mit Pommes Frites. Sofort steigt meine Laune wieder und ich muss echt lachen. Hätte ich den richtigen Ausgang genommen, wäre ich gar nicht hier vorbeigekommen.
Das Bier schmeckt, das Steak schmeckt, die Pommes frites schmecken auch, und das Essen gibt es zum Schnäppchenpreis von Y 1600, also ca. 12 Euro, da habe ich in Frankreich für den dreifachen Preis schon ein schlechteres Rindersteak gegessen. Der Bierpreis von Y 800 relativiert das ganze dann zwar ein bisschen, aber es ist auch echt ein sehr leckeres Bier. Nach dem Zahlen mache ich dann erstmals den Versuch, in Japan ein Trinkgeld zu geben und lasse Y 200 auf dem Tablett liegen, aber beim Aufstehen macht mich der Gast am Nachbartisch sofort darauf aufmerksam, dass ich da Geld vergessen hätte. Also doch kein Trinkgeld. Satt und wieder mit der Welt im reinen rolle ich mich schließlich zurück zum Hotel.
Ausgaben des TagesU-Bahn-Fahrten Y 420
Snacks und Getränke Y 1500
Reh-Kekse Y 150
Todaiji Y 500
Sangatsudo Y 500
Kasuga Taisha Y 500
Kofukuji Östliche Goldene Halle und Schatzkammer Y 800
Abendessen Y 2400
1 ÜN im Hotel Toyoko-Inn Shijo-Karasuma Y 8230
Aus Trotz den Südausgang genommen zu haben: unbezahlbar