Tag 13, 31.5.Morgens standen wir auf, aßen beim continental breakfast unsere üblichen 2 Toastscheiben und checkten dann aus. Als erstes ging es zum Walmart, wo wir Proviant für den Tag kauften, dann in die Innenstadt von Tulsa, die wir anschauen wollten. Es war unheilvoll schwülheiß und auch für heute waren wieder schwere Gewitter angesagt – aber erst nachmittags. Wir drehten ein paar Runden in der Innenstadt, die für uns mit ihrer Jugendstilarchitektur überraschenderweise zu einer der schönsten im mittleren Westen zählte.
Sie war belebt und hübsch bepflanzt und dekoriert mit Blumenkübeln und Skulpturen.
Lange konnten wir jedoch nicht bleiben, denn bald mussten wir weiterfahren und uns auf den Weg dorthin machen, wo wir die besten Gewitter vermuteten. Wir fuhren entlang der Interstate und teilweise auch auf Abschnitten der Route 66 wieder zurück Richtung Oklahoma City, aßen unterwegs bei McDonalds, tankten und erreichten dann unser Zielgebiet ca. 30 km nordöstlich von Oklahoma City und östlich von unserem gestrigen Ausgangspunkt, Guthrie, gut vorbereitet und ausgerüstet.
Denn: Die Ausgangsbedingungen für die heutige Lage waren (für Gewitterjäger) perfekt. Das SPC prognostizierte CAPE (Convective Available Potential Energy – die atmosphärische Energie, die Gewittern zur Verfügung steht falls es zur Auslöse kommt) von 4000-6000 Joule, was der Energie von Tropengewittern entspricht und in unseren Breiten nur äußerst selten erreicht wird. Die Scherung, wichtig für die Entstehung von rotierenden und damit tornadischen Gewittern, war auch extrem, weil der Jetstream genau über dem Gebiet lag. Und die Hebung, also der Garant für Auslöse, war auch gegeben, denn eine massive Kaltfront näherte sich.
Es war außerdem sehr feucht und heiß war es auch – und das konnte man gut anhand des Satellitenbildes sehen: gegen Mittag lösten sich die Reste der Gewitter des Vortages auf und in einem Streifen quer über Oklahoma knallte die Sonne aufs Land und kleine Quellwölkchen bildeten sich – was will man mehr.
Außerdem gab es eine Inversionsschicht in der Atmosphäre, eine Art Deckel, der verhinderte dass zu viele kleine Gewitter entstehen und sich gegenseitig die Energie klauen, wie es vorgestern passiert war. Diese Lage erinnerte übrigens an die Lage des Moore-Tornados von 1999, der Tornado mit den stärksten je gemessenen Windgeschwindigkeiten, der im Süden von Oklahoma City schwere Schäden anrichtete und viele Menschenleben kostete.
Und eben wegen genau dieser brisanten Lage sprach das SPC auch von explosionsartigen Gewitterentwicklungen, „giant hail“ (gigantischem Hagel) und „several strong to violent tornadoes“ (zahlreiche starke bis extrem starke Tornados), ein Ausblick über die wir beide nur staunten und so noch nie gelesen, geschweige denn live miterlebt hatten.
Wir gingen anhand der Karten davon aus, dass es wieder in der gleichen Gegend wie gestern auslösen würde und die Gewitter dann nach Nordosten wieder Richtung Tulsa wegziehen würden. Wir standen nun also zwischen zwei kleinen Geisterstädten mitten in der Graslandschaft an einer Kreuzung herum, warteten auf Auslöse und ärgerten Kühe auf einer Wiese mit unserem Walmart-Schwein Porki.
Von Gewittern fehlte jedoch selbst zur berechneten Auslösezeit jede Spur – sollte etwa diese absolute Schwergewitterlage floppen?
Doch dann, um 16.30 Uhr ging es los. Es bildete sich eine Zelle nördlich von uns (die dann einging), eine Zelle genau westlich von uns (die sich aber recht schnell in die entstehende Gewitterlinie einfügte und damit schlechte Sicht auf eventuelle Tornados versprach) und eine Zelle südwestlich von uns. Wir hatten uns im Vorfeld überlegt, möglichst gleich die südlichste Zelle der Linie anzufahren, um die besten Chancen auf Tornados und tolle Wolkenstrukturen zu haben, also war das unsere Zelle. Das werdende Gewitter war bereits schwach auf dem Radar zu erkennen und befand sich westlich von Oklahoma City in einem Vorort – El Reno.
Wir entschieden uns also, so schnell wie überhaupt möglich unseren Standort dorthin zu verlagern. Wir mussten praktisch um das gesamte Stadtgebiet von Oklahoma City drumherum fahren, um noch rechtzeitig an die südliche Flanke des Gewitters zu kommen. Von diesem Standpunkt aus hat man die beste Sicht auf die Wolkenbasis und Wallcloud und ist außerdem am wenigsten in Gefahr. Zunächst fuhren wir nach Westen, doch dann erkannten wir, wie rapide und explosionsartig sich das Gewitter ausbreitete und nach Osten zog, und bogen nun nach Süden ab, um uns an die eben beschriebene südliche Flanke vorzuarbeiten, bevor es uns überrollt.
Bereits eine halbe Stunde nachdem wir sie zuerst auf dem Radar gesehen hatten, konnten wir jetzt aus der Ferne Sichtkontakt herstellen, und obwohl das Gewitter noch so jung war, stand schon ein riesiges Monstrum vor uns, mit einem immer größer werdenden, quellenden Schirm mit großen Mammaten.
Südlich von der Zelle konnten wir erkennen, dass es eine Lücke in der Linie gab, bevor dann – wohl an der Grenze zu Texas – das nächste Gewitter nach oben schoss. Auch günstig, denn so konnte sich das Monstrum ungestört entwickeln und konkurrierte mit keinem anderen Gewitter.
Und bisher war das Gewitter „nur“ mit einer Schwergewitterwarnung versehen, keiner Tornadowarnung, so dass wir noch eine Chance hatten, sich ihm zu nähern, wir waren noch nicht zu spät dran.
Leider kamen wir bei unserer Fahrt in den Vororten von Oklahoma City nicht so schnell voran, wie wir es uns gewünscht hätten, denn ständig hielten uns Verkehr, Mautstellen und Stoppschilder auf, und geradeaus fahren konnte man auch nicht, sondern eher im Zickzack. Dazu kam, dass das Gewitter nun immer gewaltiger wurde, und begann erst nach Osten, dann nach Südosten auszuscheren, obwohl die generelle Zugrichtung des Tages Nordosten war, so dass wir immer weiter ins Stadtgebiet von Oklahoma City hineingedrängt wurden.
Die Wallcloud konnten wir dennoch recht bald sehen, sie schob sich wie ein riesiger dunkler Keil in den Himmel.
Und als wir ungefähr auf gleicher Höhe mit dem Gewitter, aber noch östlich von ihm waren, kam die erste Tornadowarnung rein und auf dem Radarbild war ein deutliches Hook Echo (eine hakenförmige Radarsignatur, die auf einen möglichen Tornado hinweist) zu sehen.
Die Warnung sprach davon, dass Rotation auf dem Radar erkannt worden war und daher mit einem Tornado zu rechnen sei. Diese Warnung blieb etwa 20 Minuten lang drin, während wir weiter versuchten, nach Süden durchzustoßen, was unheimlich schwer war, weil sie sich weiter ausbreitete und in unseren Fahrweg hineinscherte.
Als wir dann auf einer Turnpike, einer Mautstraße, nach Süden unterwegs waren, und endlich ordentlich vorankamen (keine Stoppschilder, kein Verkehr), fassten wir den Plan, nach Westen auf die I-40 zu fahren, damit wir endlich an die Basis des Gewitters herankommen würden. Doch dann, kurz bevor wir am Autobahnkreuz mit der I-40 ankamen, lasen wir ein Update der Tornadowarnung: Man habe den Tornado jetzt gesichtet, und unter dem Gewitter sei ein „strong and large tornado“. So sehr es uns reizte, diesen von Nahem zu sehen, es wäre leichtsinnig gewesen, die I-40 nach Westen zu nehmen, da wir möglicherweise direkt rein gefahren wären. Im Nachhinein eine Entscheidung, die uns möglicherweise das Leben rettete, denn der Tornado überquerte irgendwann in diesen Minuten die I-40 mit seiner Breite von mehreren Meilen. Auf dem Radar konnten wir jetzt auch einen Debris Ball sehen, eine Radarsignatur die zeigt, dass es definitiv einen Tornado gibt, da ein Ball aus aufgewirbeltem Schutt auf ihr zu sehen ist.
Wir suchten uns jedoch trotzdem einen Standpunkt in dieser sicheren Entfernung und schauten die Wallcloud etwas länger an, um einen Blick auf den Tornado zu erhaschen, und waren uns nicht ganz sicher, ob wir ihn sehen würden. Die Wallcloud schien fast am Boden zu kleben und eigentlich war nur rabenschwarzer Niederschlag zu erkennen, der jedoch stark rotierte. Doch das konnte der Tornado nicht sein, so groß ist ein Tornado nicht – oder?!
Wir hatten es nun scheinbar geschafft und waren südlich der Zelle, so dass wir einen Versuch wagten, vorsichtig näher an die Zelle heranzufahren, direkt nach Westen. Plötzlich heulten die Tornadosirenen um uns herum (erneut? – wir waren schon gar nicht mehr sicher, wie oft wir die Tornadosirenen heute schon gehört hatten, zwischen 5 und 7 Mal bestimmt, und irgendwann schien es in ein Dauerheulen überzugehen) auf, und aus Richtung des Gewitters kam uns mit einer Affengeschwindigkeit ein Ortsansässiger entgegen, der uns anhupte, nach dem Motto: „Ihr da aus VERMONT! Das hier ist ein richtiges Gewitter, gefährlicher als das was ihr da oben habt! Ihr müsst umdrehen und rausfahren, nicht reinfahren!“
Wir ließen uns aber nicht beirren und fuhren weiter geradeaus in das Monster hinein. Je näher wir kamen, desto bedrohlicher sah die Wallcloud aus, wie ein Ufo das über den Suburbs schwebte.
Einen besseren Blick als ein schwer rotierender Niederschlagsvorhang bekamen wir auf den Tornado jedoch nicht, und zudem scherte das Gewitter weitere in unsere Richtung, so dass wir jetzt wieder nach Süden abhauen mussten.
Viele stellen ihre Autos unter Tankstellen ab, um vor Hagel geschützt zu sein:
Die Stimmung kippte, aus Jägern wurden Gejagte. Das erste Mal, als uns die Angst durch Mark und Bein ging, war, als wir in einem kleineren Stoppschild-Stau gefangen waren, und die Leute auf der Spur das Gegenverkehrs von hinten hupend und mit Warnblinkern überholten. Wovor flohen sie da hinten? War der Tornado möglicherweise schon genau hinter uns? Gerade mir, die ich ja noch unerfahren bin bei der Gewitterjagd, machte das große Angst. Doch wir kamen aus diesem Stau schnell wieder heraus, und so beruhigte sich alles wieder und wir versuchten weiter, am Gewitter dran zu bleiben. Doch recht schnell stellte sich heraus, dass wir wirklich keinen Erfolg mehr haben würden, näher heranzukommen, und dass wir uns wohl eher aus der brisanten Situation zurückziehen sollten. Wir erreichten nun glücklicherweise eine große Straße nach Osten und machten uns auf den Weg. Doch dann zog plötzlich von links, also Norden, ein Hagelvorhang direkt vor unseren Augen und höchstens eine Kreuzung entfernt quer über die Straße, und da wir mit tennisballgroßem Hagel zu rechnen hatten, war diese Straße plötzlich keine Option mehr. Also raus nach Süden – wir bogen rechts ab.
Und diese Idee hatten wohl viele – wir kamen auf eine Straße, die völlig verstopft war. Im Stau steckten mit uns auch andere Chaser, unter anderem Brandon Sullivan mit seinem Auto, das keine Frontscheibe mehr hatte und völlig zerbeult war. Kein Wunder, dachten wir, schließlich ist das eine Mini-Straße, die direkt zum großen Highway nach Süden führt, auch unser Ziel. Und das war jetzt so ziemlich der Super-GAU eines jeden Chasers: wir standen direkt unterhalb der Wolkenbasis eines Gewitters, das unerlässlich nach Süden anbaute und konstant tornadobewarnt war. Heiko beruhigte mich jedoch, indem er sagte, im Moment sei die Wallcloud geschwächt, da eine andere Zelle einen Downburst geworfen und damit die warme Luftzufuhr unterwandert habe. Damit hatte er Recht, und die wahnsinnig gefährliche El-Reno-Zelle hatte auch genau in diesem Moment keinen Tornado, die Gewitter über Oklahoma City produzierten jedoch in den nächsten Stunden noch drei weitere Tornados, einer davon in der nähe von Moore. Dennoch zuckte ich jedes Mal zusammen, wenn der Wind etwas auffrischte. Und das über anderthalb Stunden hinweg, denn so lange standen wir im Stau: wir fanden schnell heraus, dass der Stau nichts mit der kleinen Straße zu tun hatte, sondern damit, dass selbst der große Highway hoffnungslos verstopft war. Waren das alles Flüchtlinge?!
Es herrschten katastrophale Zustände.
Die Polizei hatte die Gegenfahrbahn des Highways gesperrt und Patrouillen aufgestellt, damit niemand mehr in die Stadt hineinfahren konnte – Oklahoma City hatte „tornado emergency“, eine Art Tornadonotstand ausgerufen. Auch an den Mautstellen wurden wir einfach durchgewunken: „GO GO GO!“ Endlich erreichten wir dann gegen 9 Uhr abends den fließenden Verkehr, mit der Wolkenbasis des riesigen Gewitters, das sich nie aufhörte in alle Richtungen auszudehnen, immer noch über uns.
Oklahoma City war mittlerweile unter einem Gewitter fast so groß wie Brandenburg, was noch immer 4 Tornado-, eine Flut- und eine Schwergewitterwarnung hatte.
Als wir uns nun endlich in Sicherheit wähnten, löste sich schließlich aus dem südlichen Teil des Gewitters noch ein Bow Echo heraus, was mit ca. 80 Meilen nach Süden unterwegs war, so dass wir ihm mit unseren 75 Meilen pro Stunde nur knapp und durch unseren Vorsprung entkamen. Einfach irre, dieses Gewitter.
Schließlich fuhren wir dann spät abends endlich aus dem Gewittergebiet heraus. Wir hielten auf einem Parkplatz an und sammelten uns und unsere Eindrücke. An Schlafen war noch lange nicht zu denken, obwohl es fast Mitternacht war. Heiko, der ja schon gewittererfahrener ist als ich, resümierte, dass er noch nie eine so verrückte und gefährliche Zelle gesehen hatte, die Tornados, Überflutungen, Bow Echos und Downbursts in sich hatte. Erst als wir in die Nähe von Lawton kamen, wo wir für die Nacht ein Motel buchten, konnten wir uns völlig entspannen. Wir waren endlich wieder in der warmen Luft, ohne Regen, Hagel oder Sturm; nur hinter uns blitzte es immer noch.
Schließlich erreichten wir unser Motel in Lawton, wo wir nicht die einzigen aus Oklahoma City waren: dutzende Menschen waren allein am Check-In Einwohner von Oklahoma City, die vor dem Gewitter geflohen waren und nun mit Hund und Katze eine Unterkunft suchten, 100 Meilen entfernt von der Stadt. Abends im Fernsehen hörten wir dann Nachrichten, die uns die Sprache verschlagen: Luftaufnahmen zeigten den Mega-Stau aus der Stadt heraus, in dem auch wir steckten, mit der Monsterzelle im Hintergrund und es hatte wohl einige Tote und verletzte gegeben, die im Auto vom Tornado überrascht worden waren.
Zum Stau sei es überhaupt erst gekommen, weil ein Fernsehmann den (idiotischen) Rat gegeben hatte, ins Auto zu steigen und zu flüchten, falls man keinen Sturmkeller habe – so dass sich der tägliche Berufsverkehr und die Flüchtlingsströme zu einem riesigen Stau potenzierten. Dieser Rat wurde von so vielen deshalb befolgt, weil die Angst vor einem erneuten Moore-Tornado, bei dem viele Menschen ohne Sturmkeller umkamen, noch so groß in den Köpfen steckte.
Auch Chaser wurden vom Tornado erfasst und von seiner ungewöhnlichen Zugbahn überrascht, unter anderem auch das Weather Channel-Team, das im Auto 200 yards weit geschleudert wurde und nur deshalb überlebte (aber mit Verletzungen ins Krankenhaus kam), weil die Airbags sie geschützt hatten. Nach ersten Berichten sollte der Tornado ein Multi-Vortex Tornado und bis zu einer halben Meile breit gewesen sein. Einige Tage später hörten wir im Fernsehen dann, dass der Tornado mit 2.6 Meilen Durchmesser den Breitenrekord für Tornados gebrochen hatte und ein EF-5 (mittlerweile aber wieder herabgestuft) gewesen sein soll. Noch mehr schockierte uns jedoch die Nachricht, dass drei Chaser, die sehr bekannt waren und von denen wir auch einen persönlich kannten, nicht lebendig aus dem Tornado herausgekommen waren: Tim Samaras, Paul Samaras und Carl Young waren ums Leben gekommen. Beide Chasingteams wurden davon überrascht, dass der Tornado völlig überraschend seine Zugrichtung änderte und sie dann verschlang. Doch nicht nur die völlig unvorhersagbare Zugbahn machte diesen Tornado so gefährlich, auch seine Größe: viele Chaser, die ganz in der Nähe waren, aber lange nicht im Tornado drin, erlebten immer noch Wind in mehr als Orkanstärke, da der sog. "inflow" so stark war, dass er ganze Scheunen und Gebäude auseinanderriss.
Wir waren noch Tage danach völlig benommen von diesem Ereignis, diesem denkwürdigen Chasing-Tag, bei dem wir das Gefühl hatten, dass die volle Tragweite uns erst langsam bewusst werden würde: Gewitterjäger und Ortsansässige tot, Oklahoma City überschwemmt und in den Vororten zerstört, und ein großer Stau mitten in einem Schwergewitter. Wir hatten das Gefühl, dass wir eigentlich Glück hatten, zu spät gekommen zu sein, denn wären wir von Anfang an mittendrin und an der richtigen Stelle gewesen, hätte dies auch für uns böse enden können. Ich hätte persönlich auch nie gedacht, dass mein allererster Tornado eine solch brutale Naturgewalt und ein riesiger Wedge-Tornado ist.
Gefahrene Meilen: ca. 260