17. April: TokioDer letzte richtige Urlaubstag hat begonnen. Für mich beginnt er schon vor Sonnenaufgang, denn ich wache um kurz vor fünf auf und fühle mich sogar ausgeschlafen. Hm, vielleicht färbt das Land langsam auf mich ab. Wahrscheinlich bin ich hier in Japan auf dem besten Weg, meine eigene Effizienz ins Unermessliche zu steigern und werde künftig regelmäßig mit nur vier Stunden Schlaf auskommen.
Trotzdem bleibe ich erst mal ganz ineffizient im Bett liegen, gehe schließlich frühstücken, packe meine Sachen und checke um halb acht aus. Der Koffer darf noch ein länger träumen und bleibt erst mal hier im Hotel, und ich mache mich auf den Weg nach Asakusa in der Nähe des Hotels. Dazu nehme ich am Ueno-Bahnhof die U-Bahn, die Ginza-Linie.
In der U-Bahn fällt mir mal wieder auf, wie sehr sich die „deutsche“ Aussprache der japanischen Ortsnamen und die tatsächliche Aussprache unterscheiden können. Für mich hieß Asakusa bei der Urlaubsvorbereitung immer Asakuuuhhhsa, mit Betonung auf der dritten Silbe. Aber eigentlich hätte mich mir vorher denken können, dass es so nicht sein kann: Das U wird im Japanischen teilweise als kurzer Laut, wie eine Mischung zwischen ü und e gesprochen und teilweise praktisch gar nicht. Also verkündet die Stimme über Lautsprecher natürlich, dass die U-Bahn nach „Asaksa“ fährt.
Nach drei Stationen steige ich aus. Hier ist schon die U-Bahn-Station an die nahe Sehenswürdigkeit, den Senso-ji-Tempel angepasst. Und am Eingang des Tempels stelle ich fest, dass auch in Japan gilt: Die Polizei, dein Freund und Helfer.
Der Senso-ji-Tempel ist ein buddhistischer Tempel, der der Legende nach darauf zurückgeht, dass im Jahr 682 zwei Fischer eine Statue der buddhistischen Göttin Kannon aus einem Fluss fischten, die immer wieder zu ihnen zurückkehrte, obwohl sie sie in den Flus zurückwarfen. In der Nähe wurde einige Jahre später der Tempel errichtet. Netterweise ist der Eintritt kostenlos, aber sein Geld kann der Reisende dafür problemlos an den Souvenirständen entlang des Wegs zur Haupthalle ausgeben. Jetzt sind die meisten Läden aber noch geschlossen und ich komme gut voran. Dafür bleibe ich ein paar Meter weiter hängen: Ein Kirschbaum! Offenbar eine der spät blühenden Sorten mit wunderschönen dichten Blüten.
Am Tempel ist noch nicht viel los, aber langsam trudeln verschiedene Schulklassen ein. Drei ganz mutige Jungen fragen mich auf englisch, ob sie ein Foto mit mir machen dürfen und lassen beim Fotografieren dann vor Aufregung beinahe die Kamera fallen. Als ich wenig später ein paar Mädchen frage, ob ich sie fotografieren darf, kreischen sie sofort los, rücken ihre Sonnenbrillen zurecht und stellen sich in Pose. Dann wollen sie natürlich auch ein Foto mit mir und kucken sich einen Jungen aus, der das Foto machen soll. Der muss dann natürlich noch ein eigenes Foto mit mir bekommen. Alle schnattern aufgeregt durcheinander, und ich komme mir vor wie eine wundersame Erscheinung.
Nach dem Sensoji-Tempel fahre ich zurück zum Hotel, um meinen Koffer abzuholen. Auf dem Weg dorthin merke ich, dass mein Fuß wieder mehr schmerzt. Also mache ich langsam: Kein Tokio-Tempo, sondern Takayama-Tempo, nehme ich mir vor. Trotzdem wird der Transport des Koffers vom Hotel zur Tokio-Station wieder schweißtreibend, obwohl ich jede verfügbare Rolltreppe und jeden verfügbaren Aufzug nutze. Aber wenn man sich mit einem sperrigen Koffer bewegt, kann man das nur schwer im langsamen Takayama-Tempo tun, wenn um einen herum die Welt im Tokio-Tempo hastet.
In der Tokio-Station dann der Schreck: Ich finde erst mal kein freies Schließfach für meinen Koffer. Dabei will ich ihn hier zwischenparken, bevor ich heute abend von hier aus den Narita-Express hinaus zum Flughafen nehme. Wahrscheinlich hatten andere Leute ähnliche Ideen, jedenfalls sind alle großen Schließfächer belegt. Ratlos frage ich einen Mitarbeiter, der mir den Tipp gibt, noch ein Stück weiter zu gehen. Und tatsächlich: sozusagen in der letzten Ecke des Bahnhofs sind drei große Schließfächer frei. Puh, Glück gehabt. Zur Sicherheit mache ich noch ein paar Fotos von Schildern und Shops, die auf dem Weg zu den Schließfächern liegen, damit ich meinen Koffer später auch wiederfinde.
Jetzt erst mal raus aus dem Bahnhof. Ich nehme den Marunouchi-Eingang, der auf der Westseite des Bahnhofs am alten Bahnhofsgebäude aus dem Jahr 1914 liegt. Der Bahnhof sollte damals angeblich dem Amsterdamer Hauptbahnhof nachempfunden werden. Zumindest europäisch sieht er aus.
Von hier aus gehe ich weiter zum Kaiserpalast. Bis 1867 residierte dort der Shogun, der Japan faktisch regierte. Als im Jahr 1868 das Kaisertum neu begründet wurde und Tokio zur Hauptstadt wurde, wechselte der Kaiser von Kyoto hierher. Wenn man schon mal in Tokio ist, darf der Palast fehlen, auch wenn man eigentlich nur von weitem einen Blick darauf werfen kann. Aber der Blick ist dafür dann auch besonders fotogen. Unterschätzt habe ich nur, wie weit der Palast vom Bahnhof entfernt ist, nämlich fast eineinhalb Kilometer. Da bedankt sich der Humpelfuß natürlich herzlich. Wahrscheinlich hätte ich unterwegs doch besser auf den wild winkenden Taxifahrer reagieren und mich bequem hierher chauffieren lassen sollen.
Ich gehe ein Stück zurück und fahre dann mit der Hibiya-Linie zur Station Tsukiji. Die Gegend ist berühmt für den Fischmarkt, bei dem schon im Morgengrauen die Tunfisch-Auktion stattfindet. Jetzt ist es schon Mittag, zu spät für den eigentlichen Markt, aber ringsum bieten die Weiterverkäufer Fisch, Meeresfrüchte und Waren aller Art an. Wie ich hier erfahre, kann man Oktopus und andere Sachen sogar getrocknet kaufen.
In der Nähe des Fischmarkts soll es das frischeste Sushi geben, also setze ich mich in einem Lokal an die Theke und bestelle Sachen, von denen ich nicht weiß, was es ist. Bei den hinteren Sushis weiß ich es auch nach dem Essen nicht wirklich. Aber lecker schmecken die kleinen Häppchen.
Gestärkt stelle ich fest, dass es von hier aus nach Ginza eigentlich nicht mehr weit ist, jedenfalls auch nicht weiter als wenn ich zur U-Bahn Tsukiji zurückgehen oder komplizierte Wege mit anderen U-Bahn-Linien fahren würde. Auf dem Weg komme ich noch an einer Post vorbei, und mir fällt plötzlich ein, dass ich seit zwei Tagen die fertig geschriebenen und frankierten Postkarten mit mir herumschleppe. Also schnell hinein, und weil ich keinen Briefkasten finde, gebe ich sie am Schalter ab.
Ginza, eine der Haupteinkaufsmeilen Tokios, finde ich dann relativ langweilig. Hier sind zwar durchaus exklusive Kaufhäuser und Marken vertreten, aber elegant ist das Viertel nicht. Ein paar Gebäude sehen interessant aus, ansonsten stehen hier aber die üblichen klötzchenförmigen Häuser dicht an dicht an engen Straßen. Richtig großzügig wirkt eigentlich nur das altehrwürdige Ginza-Wako-Gebäude mit seinem Uhrturm. Ich schlendere durch das Mitsukoshi-Kaufhaus gegenüber und dope mich auf der Dachterrasse mit einem erfrischenden Bier, dann tut auch der Fuß nicht mehr so weh.
Von hier aus fahre ich mit der Ginza-Linie bis zur Station Suehirocho. Die liegt am Viertel Akihabara, Beiname „Electric Town“. Entsprechend dieses Namens gibt es hier vor allem Elektro-Artikel zu kaufen, allerdings sind hier auch Mangas und Animes stark vertreten. Und dann gibt es noch die Maid Cafés, in denen wie Zofen gekleidete hübsche junge Japanerinnen die Gäste bedienen. Auf den Straßen wird dafür Werbung gemacht, teils auf Plakaten, teils in menschlicher Form.
Beim Herumspazieren komme ich dann zufällig am Gundam-Café vorbei und erinnere mich: Da war doch was auf der Japan-Guide-Seite. Weil der schmerzende Fuß im Moment sowieso keine Lust hat, weiterzulaufen, gehe ich hinein und stelle fest: Hier geht es nicht um Maids, sondern um eine beliebte Anime-Serie, Gundam eben, wobei ich keine Ahnung habe, ob der streng schauende Roboter, der neben der Eingangstür platziert ist, Gundam ist bzw. ob Gundam überhaupt ein Roboter ist. Auf einem Bildschirm laufen Szenen und Musik der Serie. Die Speisen und Getränke sollen davon inspiriert sein, was sich mir zumindest beim bestellten Schokoeis nicht erschließt, aber mein Kiwi-Saft sieht immerhin nach atomar verstrahlter Kühlflüssigkeit oder etwas ähnlichem aus.
Ich gehe noch durch ein paar Manga-Läden und stelle fest: Die Titelbilder mit ballonbusigen Blondinen sind deutlich in der Überzahl. Manche sind allerdings auch ziemlich schräg.
Und dann finde ich auf dem Weg zur U-Bahn-Stationen noch einen alten Bekannten: Super Mario! Mit dem dicken Klempner habe ich in meiner Kindheit einige Stunden verbracht.
Inzwischen ist es schon nach vier, und so langsam wird es Zeit für das letzte Ziel des Tages: Roppongi Hills. Ich nehme dorthin wieder die Hibiya-Linie. Das Ticket muss ich einzeln kaufen, denn inzwischen ist das Guthaben meiner Suica-Card aufgebraucht. Nach knapp drei Wochen Japan schaffe ich das natürlich mit links, denn auch hier gilt: Erst auf der großen Tafel die gewünschte Station mit dem dort angezeigten Fahrpreis suchen, dann ausreichend Geld einwerfen und die Taste mit dem benötigten Fahrpreis drücken. So erreiche ich eine Viertelstunde später souverän Roppongi Hills, ein erst vor ein paar Jahren neuerrichtetes Viertel um den Mori-Tower.
Im Mori-Tower kaufe ich ein sündhaft teures Ticket für insgesamt 2000 Yen und fahre hinauf in den 52. Stock zum „Tokio View“, einer Aussichtsplattform. Von hier aus hat man einen schönen Blick hinüber zum Tokio Tower. Der ist natürlich vom Eiffelturm inspiriert, aber ein paar Meter höher. Im Sunset-Café gönne ich mir einen Cocktail mit Blick auf das Häusermeer. Leider ist es heute nachmittag dann doch noch sehr dunstig geworden und man sieht nicht weit. Aber immerhin weit genug, um zu erahnen, dass das Häusermeer auch hinter dem Horizont nicht endet.
Eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang fahre ich dann noch ein Stück höher zum Sky-Deck, einer Aussichtsplattform rund um den Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach des Gebäudes. Langsam geht die Sonne unter, und in den Straßen gehen die Lichter der Autos an. Auch der Tokio-Tower erstrahlt plötzlich. Wunderschön, so ein Sonnenuntergang über der Stadt.
Dann ist leider schon die Zeit des Aufbruchs gekommen. Ich muss erst mal zurück zur Tokio-Station und dort noch meinen Koffer finden. Zum Glück klappt das ohne großes Suchen, und um halb acht komme ich schließlich mit dem Koffer am Bahnsteig an, ab dem um kurz nach acht mein Zug fahren soll. Offenbar will Japan mich mit einem letzten Geschmack von Rush Hour verabschieden, denn hier steht man mal wieder quer über den Bahnsteig für die Vorortzüge an.
Mit dem Koffer komme ich hier nicht durch, ohne wieder blaue Flecke an Pendler-Schienbeine zu hauen, aber ich habe ja noch ausreichend Zeit und kann warten, bis der nächste Zug die Menschen aufgesaugt hat, bevor ich weitergehe. Während ich beobachte, wie sich hunderte und tausende Menschen im Business-Outfit in die Züge schieben, frage ich mich kurz, ob das hier alles wirklich real sein kann. Der öffentliche Nahverkehr hier in Tokio kommt mir vor wie ein Teil einer großen Computersimulation, mit der gerade jemand testet, wie viele Menschen man in möglichst kurzer Zeit ohne Massenpanik auf engen Raum quetschen und anschließend reibungslos wieder in alle Richtungen verteilen kann. Und ich in der roten Jacke mit dem großen Koffer bin der Störfaktor, um den sich alles andere herum geschmeidig verteilen muss. Sogar jetzt, wo ich einfach nur im Windschatten des allgemeinen Treibens vor einer Säule stehe, um nicht zu stören, bin ich ein Fremdkörper. Auf japanischen Bahnsteigen steht man nicht einfach nur so rum. Mehrfach schauen mich Leute irritiert an. Vielleicht fragen sie sich, ob ich den Anfang oder das Ende irgendeiner Schlange markiere, an der man sich anstellen muss. Plötzlich komme ich mir seltsam einsam vor und bin froh, als endlich der Narita-Express in den Bahnhof rollt.
Die Fahrt bis zum Flughafen Narita dauert heute abend etwas länger als tagsüber, weil der Zug unterwegs noch drei Zwischenhalte einlegt. Um viertel nach neun erreichen wir das Terminal 1. Auf der Suche nach dem Ausgang und nach dem Shuttlebus fürs Hotel muss ich meinen Pass vorzeigen, offenbar ist der ganze Flughafen ein Sicherheitsbereich, den man ohne Pass nicht betreten darf. Draußen ist dann zum Glück schnell die Haltestelle Nr. 16 gefunden, an der sämtliche Hotel-Shuttles halten. Also kann ich mir das Geld fürs Taxi sparen und stattdessen das kostenlose Shuttle nehmen. Ich will zum Nikko Narita Hotel, und das Shuttle kommt auch schon nach 10 Minuten. Nach weiteren 10 Minuten ist das Hotel erreicht, und um kurz vor zehn bin ich schon im Zimmer. Dort lege ich alles für morgen früh zurecht und gönne mir dann noch oben in der Hotelbar mit Blick auf den Flughafen zum Abschluss des Tages einen Daiquiri.
Ausgaben des Tages
U-Bahnfahrten Y ?
Sushi Y 1800
Snacks und Getränke Y 2500
Tokio View inkl. Skydeck Y 2000
1 Übernachtung im Hotel Nikko Narita 48 Euro (vorab gebucht)
Am letzten Urlaubstag die Sonne über Tokio untergehen zu sehen: unbezahlbar