Mittwoch, 5. Oktober
Unter DampfDie Nacht am Mesa Verde Campground ist kurz. Um 5.45 Uhr klingelt der Handy-Wecker. Morgentoilette und schnelles Frühstück, um 7 Uhr sind wir abgedockt. Wir haben keine Zeit zu verlieren, denn um 8.45 Uhr fährt unser Zug. Aber schon um 8.15 Uhr soll nach den Informationen der Railroad-Company das Boarding beendet sein. Und wir haben noch knapp 40 Meilen vor uns. Etwas nervös fahren wir über die Interstate nach Osten.
Anmerkung Dieter:Der Begriff ¨nervös¨ klingt relativ harmlos, aber selten zuvor in der Geschichte des motorisierten Straßenverkehrs dürfte ein Fahrzeugführer von einer Beifahrerin derart hemmungslos zum Verstoß gegen sämtliche Verkehrsregeln gedrängt worden sein, wie es auf diesen knapp 40 Meilen der Fall war. Um so wichtiger ist es, dass verantwortungsvolle Kraftfahrer Aufforderungen wie: ¨Gib endlich Gas¨, ¨die Ampel ist nicht Rot¨ und ¨den Schleicher schaffst Du auch noch¨ mit aller Entschiedenheit widerstehen und trotz des vermeintlichen Zeitdrucks der Sicherheit ihrer Mitmenschen einen höheren Stellenwert beimessen als einer wie auch immer gearteten Zugfahrt. Im späteren Verlauf des Tages haben Irene und ich nach einer gewissen Zeit der stillen Einkehr und der zu keinem übereinstimmenden Ergebnis führenden Selbst-Analyse des Geschehenen auch wieder miteinander geredet.
Dies musste dem auch einem Reisebericht aufzuerlegenden Mindestmaß an Aufrichtigkeit wegen angemerkt werden. Sonst wird der Mond über Colorado irgendwann noch eckig. Doch jetzt wieder Irenes wahrheitsgemäße Schilderung:
Kurz vor 8 stehen wir in der Schlange zum Parkplatz. Den Parkplatz (8 Dollar) haben wir zusammen mit den Zugtickets vorgebucht. Allerdings kostet ein RV-Parkplatz 10 Dollar, wie wir jetzt auf dem Schild lesen. Deshalb geht Irene mit zwei Dollarnoten in der Hand zum Parkplatzwächter. Er ist nett und erlässt uns die Zusatzgebühr. Er streicht unseren Namen in der Liste ab.
Wir haben uns am Morgen warm angezogen, denn es ist kalt hier oben in Colorado. Irene hat sich gestern extra eine Leggings gekauft, die nun unter der Jeans den Po wärmt. Auch die Halstücher kommen zum Einsatz.
Pünktlich stehen wir am Bahnhof, wo gerade der 8-Uhr-Zug abgefahren ist. Um 8.15 Uhr sitzen wir auf unseren Plätzen im Wagen (Coach) 24. Außer uns hat nur eine Holländerin die Zeitvorgabe ernst genommen. Die übrigen Mitreisenden trudeln erst nach und nach ein. Unter kräftigem Tuten des Horns startet die Dampflokomotive um 8.45 Uhr. Wir sitzen auf der linken Seite. Da der Zug in Silverton komplett gewendet wird und die Passagiere ihre Plätze behalten, sehen wir auf der Rückfahrt die Aussicht auf der anderen Zugseite.
Gemächlich zockeln die Waggons am Animas River entlang durch die Ausläufer von Durango. Wir sehen nach vier Meilen unseren Campground, wo wir für den Abend vorgebucht haben. Immer wieder stehen Leute an der Strecke und winken uns zu.
Der Zug dampft langsam, mit rund 15 Meilen per hour, die steiler werdenden Berge hinauf. Einen Zwischenstopp gibt es an der Stelle, an der Robert Redford 1969 in dem Streifen "Zwei Banditen" als Sundance Kid gemeinsam mit Paul Newman als Butch Cassidy den Zug überfallen hat.
Die lange, aber abwechlungsreiche Fahrt gewährt immer neue Blicke auf die Bergwelt. Nach und nach stellt sich die Crew vor. Der Schaffner, das Mädchen vom Bistro und eine Frau, die allerlei Wissenswertes berichtet. Wir sind umgeben von einer niederländischen Reisegruppe, die von ihrem Bus in Silverton abgeholt werden wird. Außerdem sitzt vorne ein allein reisender Kanadier. Das heißt - so ganz allein ist er nicht. Ein Teddy ist sein Reisegefährte, und der Bär beansprucht einen Sitzplatz neben seinem Freund. Etwas eigenartig für einen rund 40-Jährigen.
Irene genehmigt sich einen Kaffee mit einer ordentlichen Portion Baileys. Immerhin sind dreieinhalb Stunden Zugfahrt zu überstehen. Die Landschaft ist herrlich, es geht durch bunte Wälder und an Felswänden vorbei immer höher. Ab und zu schieben wir das Fenster hoch, um zu fotografieren. Dabei weht die kalte Luft ins Abteil. Kaum zu glauben, dass auch im offenen Wagen eine Menge Leute sitzen. Sie müssen entweder in Felle gekleidet sein oder sich die Gliedmaßen abfrieren.
Irene friert, Dieter spendiert: ein Baileys-Kaffee-Gemisch mit deutlich höherem Baileys-Anteil.Pünktlich um 12.15 Uhr treffen wir in Silverton ein. Gut zwei Stunden haben wir zur Erkundung dieses Wildweststädtchens. Die Straßen hier sind nicht gepflastert, sondern breite, staubige Gravel Roads ganz wie zu den Zeiten, als der Gold- und Silberrausch hier für Leben sorgte. Die Holzhäuser sind zum großen Teil erhalten geblieben, es wirkt alles urig und authentisch. Natürlich sind in den Gebäuden reihenweise Souvenirshops und Lokale untergebracht. Aber das kommt uns gerade recht.
Zwischenstation in Silverton, das sich den Reiz eines Westernstädtchens erhalten hat.Die wenigen Wahlplakate auf unserer Reise warben meist für Donald Trump.Wir kehren ein im Bent Elbow, einem wirklich hübschen Restaurant, das mit seiner Vergangenheit als Bordell renommiert. Die ¨Shady Ladys¨ haben in Silverton nachhaltige Spuren hinterlassen. Im Bent Elbow lassen wir uns nicht an der Bar, sondern an einem Tisch neben dem Klavierspieler nieder. Er könnte in jedem Western Karriere machen: zum Zopf gebundene lange Haare, Westernhut und kariertes Hemd, eine spitze, knallrote Nase, rote Apfelbäckchen und ein freundliches Lächeln im Gesicht. Unermüdlich greift er in die Tasten. Wir essen Wrap und Sandwich - sehr lecker.
Das Bent Elbow erwies sich als gute Wahl für die Mittagsrast.Nach dem ausgedehnten Bummel durch die Shops besteigen wir unseren inzwischen gewendeten Zug und genießen die Fahrt, wo wir diesmal aufregende Blicke in die Schluchten links der Strecke bekommen. Die Sonne meint es gut mit uns und strahlt den ganzen Tag vom blauen Himmel. Mit einer Minute Verspätung sind wir um 6 pm wieder in Durango.
Obwohl wir doch heute fast nur gesessen haben, sind wir ganz schön geschafft. Das viele Schauen strengt eben auch an. Unser Campground ist schnell angefahren. Wir docken an und essen heute provisorisch: Ein Wrap aus Silverton, den Dieter nicht mehr geschafft und in einer Box mitbekommen hat, und die beiden Muffins, die wir uns als Proviant am Morgen eingepackt, aber nicht gebraucht haben. Irene packt auf den Schinken noch Tomate, Zwiebel und Käse und gibt das Ganze für drei Minuten in die Mikrowelle - lecker!
Der Campground ist ruhig gelegen und hat eine Spezialität: Die Restrooms sind mit einem Code versehen: 3-4-2. Das ist an sich nichts Besonderes, aber hier muss man vor und nach Eingabe des Codes noch Knöpfe in bestimmte Richtungen drehen, außerdem sind die Zahlen an der Eingabe nicht arabisch, sondern römisch. Wenn man es eilig hat, ist das eine echte Herausforderung. Irene meistert sie, beobachtet aber neben sich Männer, die einen vollkommen ratlosen Eindruck machen. Dieter berichtet allerdings später, dass man beim Herrenklo den römischen Ziffern mittels Kugelschreiber eine arabische ¨Übersetzung¨ beigefügt hat. So viel zum Thema Pfiffigkeit.
Dieter meint: Ein Kommentar zu dem diesmal von Irene im Wesentlichen korrekt wiedergegebenen Sachverhalt erscheint mir zu billig. Allerdings hatte ich beim Besuch des männlichen Restrooms den Eindruck, als sei hinter zwei der verschlossenen Toilettentüren ein Hauch von Leggings sichtbar gewesen. Die wären dann wohl Damen zuzuordnen, die den eigenen femininen IQ-Zugang nicht zu überwinden vermocht und in ihrer Not bei den Simple-Minds Zuflucht gesucht hatten. Was mich zu der These verleitet, dass sich der von Irene verwendete Begriff der Pfiffigkeit nicht einem bestimmten Geschlecht zuordnen lässt. Zumindest nicht pauschal. Überdies ist es ja auch ein herausragendes Zeichen solidarischer Schwarm-Intelligenz, als Orientierungshilfe für seine Mit-Männer den römischen Ziffern beim Eingang zum Restroom arabische Zahlen hinzuzufügen. Diese bahnbrechende und im besten Sinne des Wortes der Erleichterung dienende Errungenschaft war unzweifelhaft nur bei den Herren zu verzeichnen. Vielleicht gereicht es manchen Frauen ja sogar zur Freude, wenn einige ihrer Geschlechtsgenossinnen an den römisch gesicherten Zugängen scheitern - mit allen Folgeerscheinungen. Erwähnenswert wäre in diesem Zusammenhang vielleicht auch noch gewesen, dass der Damen-Restroom am Morgen zum Schauplatz einer derart massiven Fön-Orgie wurde, dass sämtliche Sicherungen unter Überlast die komplette Elektrik des Restroom-Gebäudes lahmlegten. Überflüssig anzumerken, dass es ein Vertreter der mit römischen Ziffern überforderten Spezies war, der die Sache wieder ausbügelte. Da sich das Thema an dieser Stelle fundiert ohnehin nicht erschöpfend behandeln lässt, morgen wieder Irenes Sicht auf die Dinge.