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Autor Thema: Railroad Crossing - mit dem Zug quer durch die USA von NYC nach San Francisco  (Gelesen 33898 mal)

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Scooby Doo

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@Brigi
Ich schiebe die Schuld der Erkältung auf die Klimaanlage in dem furchtbaren Hotel in New York, die man nicht richtig abschalten konnte.
Viele Grüße, Markus

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BettinaW

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Eine Erkältung im Urlaub ist wirklich blöd. Ich hoffe sie hat dich nicht allzulange gequält.

Wieder super dein Bericht!

Gruß
Bettina

Scooby Doo

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Hier noch Fotos aus dem Viewliner Schlafwagen, wie versprochen.
Viele Grüße, Markus

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Scooby Doo

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23.05.2007 New Orleans - Abfahrt Richtung Chicago

Diese Nacht habe ich sehr lange geschlafen. Zwischenzeitlich immer wieder aufgewacht, aber unter der warmen Bettdecke immer wieder eingeschlafen: Dennoch fällt es mir auch heute früh schwer, die müden und angeschlagenen Glieder zu bewegen. Die Erkältung hat sich noch immer nicht in Wohlgefallen aufgelöst. Das kann ja heiter werden.
Ich freue mich schon sehr auf die heutige Zugfahrt, brauche ich da doch nichts anderes zu tun als mich zurück zu lehnen und eben gar nichts zu tun. Einfach nur ausruhen und nichts dabei verpassen.

Doch bevor es soweit ist, will ich mir wenigstens einmal das French Quarter im Hellen ansehen. Es gibt genügend Punkte, die ich wegen meinem Einbruch gestern Abend endgültig streichen kann, aber das Herzstück von New Orleans soll nicht darunter leider müssen.
Draußen vor dem Hotel das alte Ritual: Kaum zwei Schritte gelaufen, schon spürt man wieder die Feuchtigkeit. Doch halt! Alles Gute kommt von oben, das ist ja Regen. Zwar ganz leicht nur, aber es ist Regen.



Kreuz und quer geht es durch die Gassen, wobei ich darauf bedacht bin, die Bourbon Street zu meiden und den anderen Straßen eine Chance zu geben. Das erhoffte Jazz-Party Flair suche ich zwar noch immer vergebens, aber das liegt wahrscheinlich an der Tageszeit. In den Straßen sind jetzt nur abreisende Touristen und Lieferanten unterwegs, letztere parken die schönen Fassaden hoffnungslos zu, aber ab und an kann man doch noch einen Blick auf die Häuser mit ihren schönen Schmiedeeisernen Balkonen werfen.
Die Türen stehen offen und der ganze Dreck, an dem hoffentlich auch die heiße Luft hängt, wird herausgekehrt. Aus dem Inneren kommt die Musik nun meist aus dem Radio, dafür ist die Lautstärke auf ein erträgliches Maß reduziert. So macht es doch gleich viel mehr Spaß, durch die Straßen zu laufen.
Auch unter den Balkonen regnet es. Eine wissenschaftliche Studie würde zu dem Ergebnis kommen, dass vielleicht gerade die Blumen gegossen werden. Viele Pflanzen hängen weit über die Brüstung und man kommt sich vor wie im Regenwald. Alle Anzeichen sprechen jedenfalls dafür.
In der Luft liegt so ein schöner Geruchsmix aus Regen, Pflanzen und neu angelieferten Speisen. Es ist der Geruch eines vollkommen normalen Arbeitstages. Ich mag das, besonders, wenn man selbst zumindest auf Zeit nicht zu der schaffenden Bevölkerung zählt.



Was mich aber wirklich stört sind viele kleine Details. Niemand scheint sich so richtig um die Schönheit der Stadt zu kümmern. Bei vielen Balkone, Geländer und Häuser ist, sagen wir es milde, die Farbe wohl gerade auf Urlaub.
Und viele Geländer sind auch schon ziemlich verbogen, so als ob sie nachts mit den Laternen und Verkehrszeichen um den Meisterschaftspokal im Limbo kämpfen. Einer schiefer und krummer als der andere.



Das French Quarter wird im Westen von der Canal Street begrenzt, dahinter ragen hohe Bürotürme in den Himmel. Blickt man im French Quarter in genau diese Richtung, wirkt die Altstadt fast wie ein Fremdkörper. Ein Stadtteil aus einer anderen Zeit, der hier nicht hingehört und schön in seinem abgeschlossenen Bereich zu bleiben hat, umgeben von hohen Mauern. Ich empfinde es irgendwie erdrückend.
Nächste Enttäuschung ist der French Market. Der größte Teil ist zu Renovierungszwecken abgesperrt, der kümmerliche Rest ein Kitsch- und Plunderhandel, wie es kaum noch zu übertreffen sein könnte.

Wende ich mich lieber der guten alten Straßenbahn zu. Am French Market beginnen drei Linien, die bis zur Canal Street gemeinsam unterhalb der Uferpromenade des Mississippis entlangfahren und sich danach aufteilen.
Auch hier stören mich wieder einige Details. Die Gleise werden z.B. durch Fußgängerampeln gesichert, die bei Herannahen einer Bahn auf rot springen und bis zum Eintreffen dann noch zig Mal die Farbe ganz spontan ändern wie ein Scheinwerfer beim Konzert. Warum wird so etwas nicht repariert? Will man es erst zum Unfall oder Klage kommen lassen? Auch die Laternen geben mir ein Rätsel auf. Warum sind ihre Köpfe teilweise abgebrochen? Und warum fühlt sich niemand verantwortlich, diese kleinen Schäden mal zu beseitigen?



Als ich am Mississippi entlang laufe, kommt die Sonne heraus und von Westen zieht eine mächtig dunkle Gewitterfront auf die Stadt zu. Der Anblick ist genial. Die Stadt erstrahlt in hellem Glanz vor dem immer bedrohlicher wirkenden Hintergrund. Kurz bevor ich die nächste Straßenbahnhaltestelle erreiche, öffnen sich die himmlischen Wasserhähne und mit einem Platsch kommt alles runter. Und durch die Wassermassen soll ich gleich mit dem Koffer zum Bahnhof?



So schnell der Regen gekommen ist, so schnell ist er auch schon wieder vorbei und ich muss meinen Koffer nur um riesige Pfützen navigieren. Oder können Koffer schwimmen? Ich habe es nie ausprobiert.
Den Bahnhof erreiche ich mit ausreichend Pufferzeit, so dass ich mich auch um Tickets für den eventuell geplanten Schlenker nach St. Louis kümmern kann. Wie bereits erwähnt, der Rail Pass ist keine Fahrkarte im eigentlichen Sinne, sondern berechtigt nur innerhalb einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Region kostenlos Reservierungen zu bekommen.



Nun besitze ich also Tickets für zwei mögliche Reisewege: Im Schlafwagen nach Chicago oder im Sitzklassewagen bis Carbondale, wo wir die Nacht um 3:15 erwartet werden, weiter 2 Stunden im Bus nach St. Louis und abends von St. Louis direkt nach Chicago. Ich kann mich also in der nächsten Zeit noch spontan entscheiden, wie es weiter gehen soll.



Eine halbe Stunde vor Abfahrt werden die Passagiere der ersten Klasse aufgerufen, sie dürften es sich bereits an Bord bequem machen. Schon ganz routiniert warte ich wieder darauf, dass man sich wundert, warum ich mich in die Schlange der Mehrzahler einreihe und da ist sie auch schon prompt, diesmal aber etwas förmlicher, aber noch immer erstaunt: „Sir, haben Sie einen Fahrschein der ersten Klasse?“
Stolz wie der König des Ortes meiner Modellbahnanlage zeige ich ihm die angeforderten Papiere, die es mir mal wieder erlauben, exklusiv zu reisen und einen Ausdruck der Verblüffung auf manches Gesicht zaubert.
Ich setze mich exklusiv in mein Abteil und genieße es, mich exklusiv nicht mehr bewegen zu können. Aus Kissen wird eine kleine exklusive Burg gebaut, damit ich es auch schön warm und kuschelig habe und die Schaffnerin schicke ich los, etwas heißes Wasser zu holen, damit ich mir einen Tee machen kann. Der Erkältung machen wir jetzt Beine!



Als wir New Orleans verlassen, wundere ich mich über die abnehmende Anzahl Bäume. So hatte ich mir die Südstaaten gewünscht und vorgestellt. Grüne feuchte Wiesen, durchzogen mit tausenden Wasserläufen, grünen Inseln und ein paar Bäumen, alle paar Minuten wunderschöne Plantagen und alte Herrenhäuser. Zwar sehe ich alles nur im Vorbeifahren, aber hier gefällt es mir. Wie ich anfangs schon sagte, jetzt beginnt der gemütliche Teil, ohne etwas verpassen zu müssen.
Der Speisewagenschaffner klopft an meine Tür und wünscht zu wissen, wann ich zum Dinner in sein Reich herüberkommen möchte. Ich schaue in den Fahrplan, addiere ein wenig zu erwartende Verspätung ein und nenne eine Zeit zwischen Jackson und Memphis. So muss ich mich nicht wieder ärgern, stundenlang im Zug zu sitzen und genau, wenn man zu Tisch ist, hält der Zug längere Zeit und raubt mir jegliche Möglichkeit, mich zu den Rauchern auf den Bahnsteig zu stellen, um statt einen Lungenzug einen richtigen Zug in fototechnischer Art genießen zu dürfen.

In Jackson haben wir dann Ewigkeiten Aufenthalt. Der Himmel ist inzwischen wieder aufgerissen und die letzten Sonnenstrahlen des Tages strahlen das Capitol an, das man sehr gut vom Bahnsteig aus sehen kann.



Nach dem Abendessen im Abteil macht sich das Fieber wieder leicht bemerkbar. Nach einer weiteren Tasse heißen Tee beschließe ich, auf die nächtlichen Strapazen in Carbondale/St. Louis zu verzichten und lieber entspannt und ausgeschlafen nach Chicago weiter zu reisen.

Übernachtung: Schlafwagen im City of New Orleans
Bewertung: sehr gut







Viele Grüße, Markus

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OWL

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Ach, Markus, ich bin zur Zeit genauso erkältet wie Du auf der Reise! Kann das leider sehr nachvollziehen, wie Du da gelitten hast. Wann ist es endlich wieder gut? :(

Meinen Respekt, daß Du trotzdem noch das beste draus gemacht hast und noch einiges erlebt hast! :applaus:

Quid licet Iovi, non licet bovi

America_Crazy

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Hallo Markus,

Hoffentlich hast du die Erkältung bald abgeschüttelt!
Aber wie ich sehe hast du versucht, dass Beste aus der Situation zu machen.

Super, jetzt nähern wir uns Chicago. Auf diesen Teil des Berichtes bin ich schon besonders gespannt.

America_Crazy



BettinaW

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Hallo Markus,

der Morgen im New Orleans hat mir damals auch gut gefallen. Es war noch nicht allzu heiß und man konnte die schöneren Gebäude ganz ohne Touris fotografieren.

Das mit der Erkältung war ja blöd. Ich denke die Enscheidung direkt nach Chicago zu fahren war nicht schlecht, oder? So mußt du jetzt nochmals in die USA um St. Louis zu sehen.  :wink:

Gruß
Bettina

Scooby Doo

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Meinen Respekt, daß Du trotzdem noch das beste draus gemacht hast und noch einiges erlebt hast! :applaus:

Naja, man hat sich so ewig lange darauf gefreut, da will man doch nun wirklich nicht alles verpassen.

@all
Ich danke für eure Geduld, ich hoffe, ihr fahrt noch weiter mit. Private Gründe hielten und halten mich auch die nächsten Tage vom Internet ab, aber ich versuche, das beste daraus zu machen.

24.05.2007 Ankunft in Chicago

Natürlich habe ich Carbondale total verschlafen und es grenzt schon fast an ein Wunder, dass ich überhaupt noch rechtzeitig wach werde, um noch im Zug frühstücken zu können, denn bereits um 9:00 sollen wir in Chicago einlaufen. Ich betrachte dies als Zeichen, dass ich die Erkältung jetzt wohl hoffentlich überstanden habe.
Bei mir läuft  jede Erkältung eigentlich nach demselben Schema ab: Halsschmerzen, Fieber, verstopfte Nase, Kopfschmerzen, triefende Nase, Husten, Ende. Immerhin bin ich nun schon bei der triefenden Nase angekommen. Also immer schön viele Taschentücher eingepackt und dem weiteren Urlaubsverlauf sollte nichts mehr im Wege stehen.



Zum Frühstück gibt es keine festen Reservierungen, sondern es wird nach der Wer-zuerst-kommt-krümmelt-zuerst Methode verfahren, eine verfahrene Situation, denn der Speisewagen ist restlos von einer Schulklasse erobert worden. Für den Rest bleibt nichts anderes übrig, als sich im benachbarten Aussichtswagen die Zeit zu vertreiben, bis man gerufen wird. Wieder dauert die ganze Prozedur ewig, aber weder Smoking-Stops noch Sonnenauf-/-untergänge stehen in den nächsten Minuten an, also kann man dem ganzen gelassen gegenüber stehen. Man hat ja schließlich Urlaub.

Beim Frühstück beginnt dann wieder der eigentliche Stress bzw. der heimliche Wettkampf, wer es am längsten durchhält, die Tischdecke nicht zu besudeln. Ein mir gegenüber sitzende Amerikaner ist sofort disqualifiziert, nachdem sein Kaffee die Tischdecke nun verziert. Bei mir stellt sich die Frage, ob wohl Tee oder die Milch in den Kelloggs eher dazu neigt überzuschwappen. In solchen Situationen entscheiden Bruchteile von Sekunden über Leben und Tod der Tischkultur. In einer dramatischen Rettungsaktion des Weißen Riesen entscheide ich mich für den Tee, der neben sichtbaren Flecken ja auch temperaturbedingt weitere Schäden anrichten könnte. Ich versuche, einen ausreichend großen Schluck zu nehmen, was zu leichten Verbrennungen im Mundbereich führt und hoffentlich auch einige Grippe-Viren abtötet, falls diese noch immer auf Verstärkung warten. In diesem Moment passiert es, meine Nachbarin kleckert mit ihren Frühstücksflocken. Tja, verloren. Bleiben noch zwei Bewerber um die goldene Plastikgabel: Auge um Auge, Zahn um Zahn, Mann gegen Mann. Wer hat die bessere Löffeltechnik? Wer hält dem ungeheuren Druck stand? Wen interessiert eigentlich noch, die Tischdecke schneeweiß zu halten, wo sie doch durch die beiden übrigen am Tisch eh in die Wäsche muss? Schwamm drüber.



Am Fenster rauschen Felder vorbei, auf der parallel zur Bahnlinie verlaufenen Straße ist praktisch der Hund begraben. Wir befinden uns etwa 2 Stunden von Chicago entfernt und doch in der tiefsten Provinz. Illinois ist zu großen Teilen sehr landwirtschaftlich geprägt. Hat immerhin den Vorteil, dass bei so großen Ackerflächen weniger Bäume die Sicht versperren.
Wir passieren Kankakee und die Bebauung scheint nicht mehr so abzufallen wie zuvor. Man merkt, so langsam erreichen wir den Einzugsbereich von Chicago. Bei Homewood verläuft nun auch die Strecke der Vorortzüge von Chicago parallel zur Amtrak-Strecke und jegliche ländliche Träumerei ist verflogen. An den Stationen der Metra kann man die Entfernung zu Chicago’s Innenstadt leicht ablesen: 115th Street, 111th Street, 107th Street, … immer näher kommen wir unserem Ziel und immer mehr muss ich meine Ansichten über den Verspätungsgrad der Amtrak korrigieren, denn als wir rückwärts in den Bahnhof von Chicago einfahren, sind wir sogar einige Minuten zu früh dran.



Am Bahnhof kaufe ich mir direkt einen 3-Tages-Pass für die Hochbahn (engl. Elevated Train oder kurz ‚L’) und mache mich auf dem Weg zu meinem Hotel, um wenigstens den Koffer los zu werden.
Im Hotel gleich eine Überraschung, bereits um 10 Uhr morgens bekomme ich ein Zimmer, ein wunderschönes sogar, an einer Ecke gelegen mit Blick auf den Sears Tower und auf die ‚L’, mit der ich mich auch die nächsten Stunden beschäftigen werde.



Meine Lieblingslinie ist die Purple Line, denn sie verbindet die Schleife in der Innenstadt, die daher auch einfach nur ‚Loop’ genannt wird, über eine Expressstrecke mit dem Vorort Evanston nördlich von Chicago. Nachteil dieser Linie ist, dass sie nur montags bis freitags und nur in der Hauptverkehrszeit bis in den Loop verkehrt, weswegen ich extra die Reise extra  so geplant hatte, dass ich unter der Woche der größten Stadt Illinois sein würde.
Voller Vorfreude auf eine rasante Fahrt mit dem quietschenden, alten, teils hässlichen und doch einfach zu Chicago dazugehörenden Verkehrsmittel warte ich am Bahnsteig und erwische tatsächlich noch die vorletzte Bahn der morgendlichen Rush Hour.
Nur von Express kann keine Rede sein. Auf weiten Teilen der Strecke sind Langsamfahrstrecken und Baustellen eingerichtet. Aber immerhin überholen wir noch genauso viele Züge der Red Line wie vor drei Jahren, denn auch diese Linie bleibt vor den Baumaßnahmen nicht verschont.



Evanston präsentiert sich ebenso schön wie bei meinem ersten Besuch, nur fehlt der Schnee heute und wurde durch die warme Sonne ersetzt. Es ist Sommer in The Windy City. Schneeschippen weicht Rasenmähen und dabei fällt mir auf, heute ist doch Werktag. Haben die Leute keinen Job oder wie schaffen die es, mittags daheim zu sein, um Rasen zu mähen? Und wenn sie keinen Job haben, wie können die sich dann so schöne Häuschen leisten? In die meisten würde ich ohne zu zögern einziehen.



Zurück in die Innenstadt sitze ich schräg hinter dem Fahrer und habe freie Sicht auf die Strecke. Dieser Platz wird von nun an mein bevorzugter Platz sein.



Die Station Harrison suche ich mir als Ziel aus, um auf möglichst kurzem Wege zum Buckingham Fountain zu gelangen, doch werde ich später feststellen, dass abweichend von allen Straßenkarten jedenfalls mir die Station La Salle/Van Buren etwas näher erscheint.
Im Winter verspritzt der Brunnen kein Wasser, aber im Sommer sprudelt er munter vor sich her, dass es eine wahre Freude ist. Im aufkommenden Wind wird feiner Sprühnebel noch bis weit in den Grant Park getragen, ein herrliches Gefühl, bei diesem heißen Wetter da hindurch zu laufen.
Auch danach am Ufer des Michigan Lake einfach im Gras liegen, macht unheimlich viel Spaß. Und ich fühle mich nicht einmal mies, obwohl ich mich ausruhe, ohne heute überhaupt schon etwas Großes geleistet zu haben.



Doch ich bin ja nicht nur aus Spaß in Chicago, habe hier ja auch noch eine Mission zu erfüllen. Wolfgang hatte vor einiger Zeit ein Reisetagebuch aus dem Jahre 1924 ausgegraben und sucht nun Vergleichsfotos der damaligen Motive mit der heutigen Zeit, unter anderen in Chicago. Ein Foto zeigt das Ufer des Michigan Lake in einer Rechtskurve und bis jetzt war ich mir sicher, es müsste ungefähr hier Blick Richtung Norden mit dem Navy Pier sein, doch die Bebauung passt überhaupt nicht zum ausgedruckten Vergleich aus dem Jahre 1924. Sollte sich echt so viel verändert haben? Man kann den großen Unterschied ja leicht auf die Bauwut schieben, aber so schnell gebe ich nicht auf, habe da schon eine Idee, doch dafür muss ich in den Chicagoer Norden.



Ab durch den Millennium Park, ein Foto von der Chicago Bean geschossen und rein in den Loop. Hier ein schönes Motiv, dort ein schöner Blick, da kommt eine Hochbahn, hier sieht es vielleicht auch noch fotogen aus, warum nicht hier noch eine Erinnerung einfangen und irgendwann erreiche ich sogar den Chicago River mit seinen zahlreichen Brücken, wo ich mal wieder ewig brauche, bis ich die ‚L’ in allen Farben, Formen und Konstellationen aufgenommen habe. Bin halt ein kleiner Schienentransportmittelfreak (ganze 28 Buchstaben für einen kleinen Knacks).



In der Ferne höre ich es ständig verdächtig nach Zug tuten. Dahinten ist die Einfahrt zur Union Station, aber da kreuzen sich ja zwei Züge auf unterschiedlichen Höhen? Die untere sieht mir ganz nach Straßenniveau aus. Das muss untersucht werden, Chicago’s Norden kann warten.
Vorbei an Lagerhallen und einer längst nicht mehr betriebsfähigen Klappbrücke geht es dem vermeintlichen Bahnübergang entgegen. Mich beschleicht so ein leichtes Unbehagen, ob dies auch die richtige Gegend für Touristen sei? Touristen werden sich hierher wohl weniger verirren, es sei denn, sie erkennen wie ich die hervorragende Aussicht auf die Hochhäuser jenseits der Chicago Rivers, aber sicher scheint die Gegend doch zu sein, denn gleich in der nächsten Straße begegnen mir zahlreiche Damen, die ihren Hund Gassi führen. Wenn die sich in der Dämmerung alleine hierher trauen, dann kann es nicht schlimm sein. Eine Frage bleibt da aber doch: Haben die sich etwa auch alle hier verlaufen? Sind sie ebenso große Eisenbahnfans? Ich meine, ich sehe nämlich nirgendwo Wohnhäuser, also den Ursprung ihres Spaziergangs. Alles etwas seltsam, vielleicht auch nur Lockvögel, die ahnungslose Touris eine sichere Gegend vorgaukeln sollen, vielleicht… Endlich schließt die Schranke, ich kann meine Fotos machen und mich nicht noch mehr in seltsame Gedankengänge verlieren.

An der Union Station angekommen, versuche ich Tickets für einen Tagesausflug nach St. Louis zu bekommen. Morgen ist der letzte Gültigkeitstag meines Rail Passes und das soll schließlich ausgenutzt werden, doch was sich in der Werbung super anhört, klappt in der Realität meist sowieso nicht. Das Kontingent sei erschöpft, mit dem Rail Pass keine Tickets nach St. Louis und zurück zu bekommen. Höchstens am Tag darauf. So ein Mist, hatte mich doch so sehr auf St. Louis gefreut. Der Tagesausflug war zwar von Anfang an die schlechteste Alternative, weil ich da nur etwas mehr als 3 Stunden Zeit in St. Louis gehabt hätte, aber immerhin.



Am Abend springe ich noch kurz ins Hard Rock Café, um meiner Mutter, leidenschaftliche Sammlerin der Gläser aus dem Shop, eben ein solches mitzubringen und vielleicht auch noch etwas mehr, wenn ich etwas Außergewöhnliches finde.
Und so stehe ich mit einem Gläschen und einem Schal an der Kasse, worauf mich der Verkäufer gleich schief ansieht: Ein Schal bei diesen Temperaturen? Selbst spät am Abend ist das Thermometer noch nicht unter 28°C gefallen. Ich meine nur, sei diese hohe Temperatur nicht ungewöhnlich für Chicago, denn die Stadt am Großen See hielt ich bisher immer für wohl temperiert, doch er belehrt mich eines besseren: In Chicago würde es im Sommer sehr wohl sehr heiß werden, jedoch nicht unbedingt an einem Tag 10°C (gestern) und am nächsten über 30°C (heute). Habe ich da in New Orleans etwa zu viel (Sonne) eingepackt und mitgebracht?

Zurück zum Hotel sollte es per Red Line gehen, doch diese ist wegen einer weiteren Baustelle außer Betrieb. Auf kleinen handschriftlichen Zettel an jeder Drehkreuz (was für ein Aufwand) befindet sich eine kleine Notiz auf diesen unangenehmen Zustand. Dann halt per Bus, warum sonst schleppe ich schon den ganzen Tag 10 Gramm Stadtplan mit mir herum?
Erschöpft sinke ich im Hotel in mein Bettchen. Endlich mal wieder ein Urlaubstag mit vollem Programm.



Übernachtung: Best Western Grant Park, Chicago
Bewertung: gut









Viele Grüße, Markus

http://www.historic-route66.de

Willi

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Markus, Dein Bericht macht richtig Lust, endlich auch mal Chicago zu besuchen. Ich glaube, dort könnt ich auch zum "Schienentransportmittelfreak" werden  :D

Schön, daß Deine Erkältung soviel Aktivität zugelassen hat - besonders auch für uns Leser hier. Aber ich bin sicher, daß selbst ein Tag im Krankenbett noch zu einem lesenswerten Bericht von Dir geführt hätte.  :lol:

OWL

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Deinen Erkältungsverlauf kenne ich auch! :( :( :(

Aber auch diese komischen Gedanken, wenn man sich in eine Angstsituation reinsteigert. Toll beschrieben! :wink:

Quid licet Iovi, non licet bovi

pierremw

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Hi,

da kommen einem doch glatt Steve Goodman und Arlo Guthrie in den Sinn: 'Riding on the City of New Orleans...', da heisst es doch auch so schön:

'...the train pulls out at Kankakee
rolls along past houses, farms and fields...'

Die fahren allerdings in die Gegenrichtung! :wink:

Tolle Reise, Markus, freue mich schon auf den 'California Zephyr'! :wink:

Never underestimate an old man with drumsticks!


BettinaW

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Hallo Markus,

dein Bericht macht immer richtig Spaß zu lesen. Man meint man gehe mit dir duch Chicago.

Wie Pierre habe ich auch an diesen Song denken müssen als ich deinen Bericht gelesen habe.

Gruß
Bettina

KarinaNYC

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Ich fürchte, ich muss mal nach Chicago...  :roll:
Tolle Bilder, schöner Bericht! :D

Matze

  • Schiri
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Ich bin mir sicher, irgendwann muß ich NY >>> Chicago >>> San Francisco!

Warum nicht mal Städtetour??  :D :D
Gruß Matze




San Francisco!!

Leo68

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Schöne Bilder von Chicago  :D


Viele Grüße
Rainer