FR, 18.10. Bikaner to JaisalmerSpätestens heute bin ich mir sicher, dass dieses Land mich wiedersehen wird. Sei gut zu dem Land und zu den Menschen hier und das Land wird es dir hundertfach zurückgeben, aber sei auch gleichzeitig vorsichtig und lass dich nicht veräppeln. Gesunder Menschenverstand, gekoppelt mit einigen Hinweisen, wird dich dazu bringen, dass Indien dich so schnell nicht wieder loslässt.
Wir verlassen Bikaner um 8.30 Uhr mit dem Ziel die "goldene Stadt" Jaisalmer zu besuchen.
Kurz hinter Bikaner machen wir einen Abstecher zu einem wunderbaren Ort. Ja, es gibt wunderbar ruhige, und dennoch stimmungsvolle, farbenfrohe und wenig dreckige Orte in Indien. Unser Zwischenziel heißt Kolayat. Anil beteuert, hier fährt er unaufgefordert nur mit seinen liebsten Gästen hin. Behandelt euren Fahrer gut, und er wird sich viel, viel Mühe geben, euch sein Land von seiner besten Seite zu zeigen.
Zunächst durchqueren wir ein Gebiet, das nach Tagebau aussieht und Anil hält an einem Werk, in dem Ziegel gebrannt werden. Hier stehen zwei Jugendliche, die sich schweigend nähern, sich schweigend fast direkt vor mich stellen und mich schweigend mustern, uns dann schweigend zurück verfolgen zum Auto.
Kolayat hat einen mit Lotus bedeckten See, mehrere Tempel. In dem kleinen Ort gibt es Ghats, Frauen in farbenfrohen Gewändern, den einen oder anderen heiligen Mann und natürlich, das lässt sich wohl nirgendwo in Indien vermeiden, bettelnde Menschen. Ein Handkarren ist an den dilettantisch aufgezeichneten und schon halbwegs verblassten Eistüten schnell als Eisgeschäft zu erkennen, aber selbstverständlich esse ich hier nichts. Wir sitzen zunächst am See und schauen auf die Ghats, schlendern dann hin. In einem Tempel wird Anil gefragt, wer ich bin und woher ich komme. Er sagt auf Hindi, mein Name sei "bright". Das hat er so beschlossen, da er Birgit nicht aussprechen kann und ich schließlich auch "bright" sei.
Wir sitzen eine Weile auf einer Bank an einem See. Wiederum schweigend und mit großen Augen stellen sich zwei Jungs direkt vor mich ins Sichtfeld und starren mich an, bis Anil sie wegschickt.
Ich finde den Ort so zauberhaft, dass ich das Touriklischee nicht erfüllen mag und nur wenige Fotos mache.
Es folgt die wieder sehr lange Etappe nach Jaisalmer über eine größtenteils schnurgerade, leere und gute Straße, insgesamt 320 Kilometer von Bikaner aus.
Es wird karger und trockener. Wir halten nur zum Mittag nochmals an. Ich schlafe zwischendurch ein bisschen im Auto. Es ist heiß draußen, in wenigen Wochen wird das bisschen Grün hier sich dem goldgelben Ton der Erde angepasst haben.
Unterwegs erfahre ich wieder vieles, beispielsweise, dass die Kühe auf der Straße harmlos sind, wenn sie geradeaus in Fahrtrichtung trotten, aber man vorsichtig sein muss, wenn ein Bulle seine Blicke den Mädels zuwendet. Wenn ihn die Lust überkommt, achtet er nicht mehr auf den Verkehr.
Und auf meine Frage, ob es stimmt, was ich in einem Roman gelesen habe, dass ein Autofahrer, der jemanden bei einem Unfall verletzt oder tötet, von den Passanten halb tot geprügelt wird, bejaht Anil. Niemand komme einem dann zur Hilfe. Und ich solle übrigens keinem der lästigen Guides meine Ablehnung damit erklären, dass mein Fahrer mir das so gesagt habe, sonst bekomme er von denen auch Prügel.
Ich habe viel Zeit meinen Gedanken nachzuhängen. Man kann an Indien nur die pittoresken Facetten sehen und die harte Arbeit und Quälerei vergessen, die dahinter stecken, wenn eine Frau bei 35 Grad im nicht vorhandenen Schatten zweimal täglich verschleiert an der staubigen Straße entlang zum Brunnen und zurück marschiert mit einem Wasserbehälter auf dem Kopf. Man kann den Dreck fokussieren und die beißenden Feuer, in denen er verbrannt wird, die Ratten, die erbärmlichen Hütten aus Zeltplane am Wegesrand, in denen die Ärmsten der Armen leben, sich ob des Geruches angeekelt abwenden, der einen in den Städten schwallweise überkommt, wenn man unwissend an einem Straßenabschnitt vorbei geht, der offensichtlich und auch geruchlich weit vernehmbar offenbar mit einem unsichtbaren Schild "men's restroom" versehen ist. Man kann sich als Kolonialherr oder -herrin fühlen und mit dem Geld prassen und dem niederen Fußvolk hier und da einen Brocken hinwerfen. Oder man legt sich eben frühzeitig eine indische Gelassenheit zu, nimmt das Land hin und staunt über das Unfassbare und genießt das Wunderbare. Wieder mal fühle ich mich wie besoffen von diesem Land.
Wir erreichen Jaisalmer um 15.30 Uhr. Das Hotel The Royale war mir vorher schon im Internet aufgefallen und auch Anil hat es "im Angebot". Er ruft im Hotel an und kündigt an, sein Gast wolle das schönste Zimmer. Das bekomme ich auch. Ich kann mich wie eine orientalische Prinzessin fühlen, besonders in der breiten Nische direkt am Fenster, in der man hinter bunten luftigen Stoffbahnen auf einer Matratze sitzen und auf die Straße sehen kann.
Um 16 Uhr fahren wir wieder los und besuchen den Jaintempel außerhalb und anschließend den Sunset-Point, an dem den Mitgliedern der Rajafamilien Denkmäler gesetzt wurden.
Der Jaintempel ist ruhig, die Mitarbeiter wirklich freundlich. Kein Guide, niemand, der außer dem Eintritt Geld will. Ich wechsele ein paar Worte mit den Anwesenden. Kunstvolle Sandsteinarbeiten erwarten mich. Auch über die Jainreligion weiß ich eigentlich gar nichts, eine Bildungslücke, die gefüllt werden will. Einer der wenigen Momente, in denen ich eine Reisegruppe mit kompetenter Leitung vermisse.
Wir fahren weiter zum Sunsetpoint. Anil begleitet mich durch die Anlage. Das beschützt mich vor den Guides. Kinder fragen mich nach Chewingum und Chocolate. Als kurz vor Sonnenuntergang ein Reisebus eintrifft und eine Herde Franzosen das Gelände erobert, weiß ich aber wieder ganz genau, dass individuelle Reisen meins sind und ich keine geführte Tour will.
Während ich hinter den schönen Denkmälern und den modernen Windkraftanlagen dahinter den doch nicht ganz so idyllischen Sonnenuntergang beobachte, begreife ich wieder mal, dass Indien spürbar, zu erschmecken, zu riechen, zu sehen ist. Die Mischung macht es, nicht nur, aber auch der Wahnsinn zwischen der fremden Kultur, der Rückständigkeit und der modernen Errungenschaften, die beispielsweise den Fahrer eines Kamelfuhrwerkes lässig in Angeberpose auf der Ladung sitzend mit dem modernen Smartphone telefonieren lässt, als ob er sich auf dem Fahrersitz eines getunten klapprigen Opel Kadett befindet. Religiöse Musik auch hier im Hintergrund und über allem ein würziger Duft, während milde und nicht zu warme Luft mich einhüllt.
Zurück am Hotel quatsche ich noch ein bisschen mit Anil, wir trinken gemeinsam ein Bier. Ich verkrümel mich dann zum Essen auf die Dachterrasse, wo ein Musiker seine Weisen vorträgt und mich immer wieder zwischendurch anlacht. Er spielt zwischendurch mit einem Touristen gemeinsam, der seine Klampfe dabei hat, interkulturelles Verständnis eben.
Am Schluss des Abends erscheint auf meiner Rechnung, dass ich 2 Fruit Lassi hatte. Ich reklamiere. Die Lassi seien doch die Biere gewesen, erklärt man mir. Ach so, man hat sich also Neues einfallen lassen. Als Hiroko damals hier war, hat sie ihr Bier als Tee getarnt in einer Kanne bekommen.