Ich lebe im Westerwald, jeweils etwa 10 km von Westerburg und Montabaur entfernt.
Aus Westerburg stammt eine junge Frau die beim Absturz ums Leben kam. Die Eltern des Mädchens und wir haben gemeinsame Bekannte, sodass man sich immer mal auf Partys trifft und dort zusammen gefeiert und gelacht hat. Zwei junge Männer stammen aus dem Nachbarort, einem kleinen Dorf wo sprichwörtlich Jeder jeden kennt. Die Drei jungen Leute waren zusammen in Barcelona auf Städtereise und kamen nicht mehr zurück.
Seit Tagen ist das Grauen und die Betroffenheit die der Absturz über die Familien, die Freunde, Bekannte und die gesamte Region gebracht hat spürbar. Jeder hat ein Familienmitglied, Freund, Bekannten, Arbeitskollegen, Schulkameraden etc. der einen Angehörigen kennt oder die jungen Leute gekannt hat.
In Westerburg auf dem Markplatz und in Rothenbach vor der Kirche und am Feuerwehrhaus liegt ein Meer aus Blumen und Kerzen. Plakate mit bewegenden Statements sowie Kondolenzbücher in Rathaus und den Kirchen spiegeln die Trauer und Anteilnahme einer ganzen Region wieder. Gestern Abend fand ein bewegender Gedenkgottesdienst mit Tausenden von Teilnehmern statt.
Zeitgleich spielen sich in Montabaur unwürdige Szenen ab. Das Elternhaus von Andreas L. musste weiträumig von der Polizei abgeriegelt werden, nur noch Anwohner dürfen ein- und ausfahren. Dafür parken die Übertragungswagen der Fernsehsender im angrenzenden Wohngebiet alles zu. Jeder Anwohner der dort vorbei möchte, egal ob zu Fuss oder mit dem Auto wird von der Pressemeute aufgehalten und um Stellungnahmen gebeten.
In Montabaur in der Fussgängerzone sind auch diverse Kamerateams und Radioreporter unterwegs und Bersorgungen in der Innenstadt wurden zum Spiessrutenlauf für die Passanten. Andere haben sich vor dem Rathaus aufgebaut bzw. belagern das Gelände des Flugplatzes oder das ehemalige Gymnasium von Andreas (das wegen der Osterferien aber derzeit geschlossen ist).
In der Fussgängerzone stürzen sich Journalisten auf jeden Passanten um eine Stellungnahme zu erhalten - vorzugsweise Stellungnahmen zu Andreas L. den man ja als Montabaurer kennen muss. Obwohl Montabaur eine Kreisstadt ist mit um die 12.000 Einwohnern. Da kann nicht jeder jeden kennen. Lehnen Passanten ein Interview ab, wird teilweise Geld angeboten oder mit unredlichen Argumenten oder Drohungen versucht die Leute zu einem Statement zu nötigen. In der Art von sie sind doch Einwohner der Stadt des Massenmörders und damit zu einer Stellungnahme verpflichtet.
Ältere Leute werden von internationalen Medienvertretern in Englisch angesprochen obwohl sie kein Wort Englisch sprechen und hetzten verstört weiter. In die ansonsten beliebte Fussgängerzone mag kaum noch jemand gehen. Dabei war die Fussgängerzone bei Tage immer eine belebte Einkaufsstrasse und auch am Abend wegen einiger Kneipen und Gaststätten nicht menschenleer.
Zur Zeit werden nun vorwiegend die Angestellten und Ladenbesitzer sowie Bedienungen und Inhaber von Cafes und Restaurants bedrängt weil sich hier keiner mehr freiwillig in die Nähe der Fussgängerzone und der versammelten Weltpresse begibt.
Taxis und Hotelzimmer sind seit Tagen keine mehr zu bekommen. Facebookgruppen mit Montabaur im Namen werden mit Schmähungen und Anfeindungen überhäuft. Die ortsansässige Lokalpresse der Heimatausgabe der Rheinzeitung von internationalen Journalisten bedrängt die dringend etwas Neues berichten müssen.
In einem kleineren Ort in der Umgebung leben mehrere Familien die zufällig den gleichen Nachnamen haben wie Andreas. Sie sollen nicht mit den Ls. aus Montabaur verwandt sein, sind aber jetzt ins Visier der Presse geraten und die Häuser sind belagert und sie werden mit Anrufen überhäuft. Eine ältere Dame wurde sooft angerufen weil man in ihr die Grossmutter von Andreas vermutete. Einige haben teilweise Geheimnummern beantragt weil sie den Telefonterror nicht mehr ertragen und trauen sich seit Tagen nicht mehr aus ihren Häusern. Die Polizei fährt mittlerweile in den Wohngebieten regelmässig Streife, hat aber keine Handhabe die Reporter zu vertreiben obwohl sie Leute belästigen.
Montabaur war immer ein beschauliches Städtchen das durch ICE-Anbindung, den ICE-Gewerbe-Park und nicht zuletzt durch den hier ansässigen Internetriesen 1&1 wirtschaftlich im Aufschwung war. Gleichzeitig hat es auch noch den Charme einer historisch gewachsenen Stadt mit heimeligen Fachwerkhäusern in der Altstadt und dem weithin sichtbaren Schloss. Auf die Entwicklung und den Aufstieg den Montabaur in den letzten Jahren genommen hat, sind wir hier alle ein wenig stolz.
Irgendwie bleibt aber auch die Befürchtung, dass Montabaur trotz des sicherlich in den nächsten Wochen wieder abnehmenden Medienrummel nicht mehr das gleiche beschauliche Städtchen sein wird wie vorher und man unsere Kreisstadt für immer mit etwas Schrecklichen in Verbindung bringen wird.
Insbesondere die Angehörigen von Andreas L. werden wohl auf lange, lange Zeit nicht mehr zu Ruhe kommen und Anfeindungen, Drohungen und Wut ins Auge sehen. Hier sind sehr viele Leute der Meinung dass diese Familie auch unser Mitgefühl braucht, denn auch sie haben einen geliebten Menschen verloren. Nur ist es für sie ungleich schwieriger ihre Trauer auszusprechen und die schrecklichen Ereignisse zu verarbeiten, weil sie nicht Angehörige eines Opfers sind sondern vermutlich Angehörige des Täters und viele ihnen ihre Trauer nicht zugestehen wollen sondern sie irgendwie mit in die Verantwortung für die schrecklichen Ereignisse nehmen möchten.
Ganz viele befürchten, dass diese Familie hier wegziehen muss und irgendwo ggf.auch unter anderem Namen neu anfangen muss, weil man ihnen auf Jahre nachstellen wird und sie ansonsten nie wieder Ruhe finden werden.
Das gleicht irgendwie alles der Handlung eines schlechten Films, einem mit ungewissem Ausgang aber in jedem Fall ohne Happy End.