1. September: Go, Buffaloes, go!Heute ist „Rocky Mountain Showdown“. Vorher aber schwärmen wir wieder aus, je nach Interessenlage. Jakob will einen Koffer kaufen (siehe oben) und damit das Ärgernis seines zu klein gewordenen Koffers beseitigen, Julian will Schuhe besorgen, denn seine sind es eigentlich nicht mehr wert, über den großen Teich zu fliegen. Beides klappt, der Koffer, ein kobaltblauer Samsonite, ist nicht gerade ein Schnäppchen (225 Dollar), aber gewiss sein Geld wert.
Irene und Dieter entscheiden sich für das Art-Museum. Zuvor aber lässt uns die Frage keine Ruhe, wie wir denn ins Stadion kommen sollen. Ein Fußweg von einer guten halben Stunde ist möglich, aber die Lauffreudigkeit unserer Mannschaft ist doch recht begrenzt. Im Hotel empfiehlt man den Light Train, der gleich nebenan am Conventional Center hält. Dorthin machen wir uns auf und studieren ausgiebig Fahrpläne und Ticketinfos. Wir ziehen am Automaten sieben One Way Tickets zum Stadion. Dass das ein Fehler war, wird sich später herausstellen.
Auf dem Weg zum Light Train
Fahrscheinmäßig vermeintlich gut für die spätere Fahrt zum Football-Spiel ausgerüstet, machen wir uns auf zum Art-Museum.
Das Art-Museum ist vor einigen Jahren zu einem großen Komplex erweitert worden.
Den Neubau hat Daniel Libeskind entworfen. Wir schauen uns zuerst die Sonderausstellung von Nick Cave an, einem Künstler, der u. a. bizarre, lebensgroße Figuren ohne Gesichter macht. Sie leben durch ihre Gewänder – mal aus Tausenden von Knöpfen, mal aus bunten Topflappen, mal aus Polyesterfasern, wie sie in Putzutensilien verwendet werden. Cave benutzt Alltags-Nippes für eigenartige Installationen. Oft sitzen Dekohunde auf Sofas oder Sesseln, um sie herum und über ihnen ein kunstvoll verwobenes Konglomerat aus Hunderten von bunten Figürchen, Stoffblumen und Kitsch. Ein Bild, das man sich an die Wand hängen könnte, findet man kaum in der Ausstellung, aber dafür neue und wirklich originelle Herangehensweisen an Gegenstände des amerikanischen Alltags. Fotografieren ist streng verboten.
„Spun“, also textile Kunst, ist ein weiteres Sonderthema des Museums. Wir schauen uns die Schau der Navajo-Webkunst an. Die Blankets aus Wolle in den traditionellen Farben Rot, Schwarz und Weiß sind kunstvoll hergestellt. Zuerst wurden sie nur über die Schultern gelegt und vorne zusammengebunden, dann mit einem Schlitz für den Kopf versehen, so dass mit Hilfe eines Gürtels ein richtiges Kleid entstand.
In zwei Gebäuden auf insgesamt sieben Etagen wird Gegenwartskunst präsentiert, vor allem aber auch indianische und präkolumbianische Kunst. Unmöglich kann man sich in drei Stunden alles anschauen – die Eintritt ist übrigens mit 13 Dollar günstig, für 15 Dollar hat man auch Zutritt zu den Sonderschauen. Wir sehen eine Menge, einschließlich einer Überraschung: eine Gegenüberstellung eines deutschen und eines malinesischen Porträtfotografen. Der Deutsche ist August Sander, ein Siegerländer, der zu Hause bestens bekannt ist. Wir sind fasziniert von seinen Porträts aus der Zeit nach dem 1. Weltkrieg. Ihm ging es um Typen, nicht um Individuen. Der soziale Status, der Beruf, die Lebenssituation des Menschen drückt sich in den Fotos aus. Aus den 50er-Jahren stammen die Bilder des Fotografen aus Mali, die ganz andere Motive, aber gar keinen so anderen Blickwinkel haben.
Eine unangenehme ÜberraschungGegen 14 Uhr brechen wir zum Football-Match auf. An der Light Train Station verteilt Irene die Fahrkarten, die wir auch brav entwerten. Ob das nötig ist oder nicht, ruft schon die ersten Diskussionen hervor. Im Zug dann die unangenehme Überraschung: Die Tickets weisen eine Expiring Time von 12.30 Uhr auf, entdeckt Jakob. Sie sind nämlich, wie uns die Kinder energisch klarmachen, nur eineinhalb Stunden nach dem Kauf gültig. „Das ist doch in der ganzen Welt so, das müsst ihr doch wissen.“ Sie haben wohl recht, aber wir fahren tatsächlich zu Hause nicht Bus oder Straßenbahn (in unserem Dorf gibt es nicht einmal eine Haltestelle), und im Ausland lösen wir meistens Tagestickets. Man lernt eben nie aus.
Fest steht: Wir fahren schwarz. Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: Augen zu und durch oder aussteigen und neue Tickets kaufen. Wir entscheiden uns für die zweite Variante. Direkt an der nächsten Station füttern wir den Automaten noch einmal mit gut 15 Dollar (2,25 pro Person) und nehmen den nächsten Train. Nach einmaligem Umsteigen sind wir – und mit uns etliche andere Football-Fans – am Ziel. Am Bahnhof Authority Fields stellt sich heraus, dass wir gut daran getan haben, neue Fahrkarten zu ziehen: Am Ausgang sind Sperren, Kontrolleure checken jede einzelne Fahrkarte. Wir atmen durch.
Fahrschein-Konferenz. Die Anklage gegen Irene und Dieter schwankt zwischen Dummheit
und Unwissenheit. Für beides gibt es am Ende mildernde Umstände.
Zehn Minuten Fußmarsch zum Stadium. Unterwegs versuchen fliegende Händler, Geschäfte mit Wasser zu machen, aber es gibt auch kostenlos Cherry-Cola. Wir haben nur die Kamera mit. Handtaschen, die größer als eine Hand sind, sollen im Stadion nicht erlaubt sein. 20 Zentimeter breit darf lediglich ein durchsichtiger Plastikbeutel sein. Auch diese Beutel werden auf dem Weg angeboten – für 5 Dollar! In die handliche Kameratasche hat Irene die Eintrittskarten und das Portemonnaie gesteckt. Aber selbst diese Tasche übersteht die Eingangskontrolle nicht. Sie muss am Baggage-Zelt eingecheckt werden (wenigstens kostenlos). Die Kamera findet Gnade vor den Augen der Security. Wir haben nur das Normalobjektiv mit, ein großes Tele, so erfahren wir, würde wohl nicht akzeptiert.
Nach und nach füllt sich das Stadion.
Wir versorgen uns mit Snacks und Getränken (aus coolen Bronco-Bechern) und begeben uns zu unseren Plätzen. Dritte Reihe, wirklich dicht dran am Geschehen. Und an den Cheerleadern, die sich in knappen Röckchen bald direkt vor unserer Nase aufbauen. Dieter zückt zufrieden seine Videokamera. Die Stunde vergeht schnell: Die Mannschaften wärmen sich unter dem Jubel der jeweiligen Anhänger auf, vielköpfige Blaskapellen machen Stimmung mit Musik und flotten Choreographien. Dann natürlich die Hymne und – kurz vor dem Spiel – der absolute Hit: die Buffaloes haben ihr Maskottchen, einen lebendigen Büffel mitgebracht und treiben ihn unter ohrenbetäubenden Gebrüll der Zuschauer einmal diagonal übers Spielfeld. Zehn kräftige Cowboys rasen neben dem Tier her und sorgen dafür, dass es nicht ausbricht, sondern in vollem Galopp in den an der Eckfahne stehenden Transportwagen springt. Unglaublich!
Gegen das Buffaloe-Maskottchen ist das zahme Dickhornschaf der Rams natürlich zum Gähnen. Auch deshalb entscheiden sich Dieter, Jakob und Irene spontan, Buffaloe-Fans zu werden. Außerdem sitzen wir in der entsprechenden Nachbarschaft. Die Rams-Fans – sehr lautstark und zahlreich, schließlich sind sie die Heimmannschaft – haben sich in der Kurve links von uns niedergelassen.
Wir schreien uns die Kehlen heiser, und das Spiel ist wirklich aufregend. Wir haben eine grobe Ahnung von den Spielregeln, die Kinder haben sich vorher im Internet etwas informiert. Im Laufe des Spiels erschließen sich die Regeln immer besser – manches verstehen wir aber auch nach vier Stunden noch nicht. Aber egal, spannend ist es jedenfalls. Und unsere Buffaloes gewinnen 40 zu 20, ein paar tolle Touchdowns haben wir gesehen, und das wilde Durcheinander auf dem Spielfeld hat irgendwie etwas Archaisches. Damit es nett anzusehen bleibt, geben die Cheerleader direkt vor uns ihr Bestes, nicht nur stimmlich, sondern auch akrobatisch. Die Jungen müssen beim Heben und Werfen Schwerarbeit leisten. Ein Mädchen fällt allerdings aus recht großer Höhe und schlägt hart mit dem Rücken auf. Nach ein paar Minuten aber ist es wieder bei der Truppe.
Vier Viertel von je 15 Minuten dauern geschlagene vier Stunden. Immer wieder wird die Zeit angehalten, über die Stadionbildschirme flimmert fast minütlich Werbung. Einmal gibt es einen nichtkommerziellen Spot: „Katie, will you marry me?“ leuchtet auf, und dann zeigt die Kamera ein Mädchen in T-Shirt und kurzer Hose auf den Rängen, offensichtlich Katie. Der Freier darf sich unter dem Jubel der Zuschauer seinen Ja-Kuss abholen, natürlich in Großaufnahme gezeigt.
Als wir gehen, ist es beinahe dunkel. Die Logistik klappt, das nahezu ausverkaufte Stadion leert sich schnell, Irene holt die Kameratasche ab, und die Züge warten schon. Kurz vor 9 sind wir zurück in der Stadt und stürzen uns noch ins Nachtleben auf der 16th Street Mall. Immerhin ist morgen Labor Day, außer den Football-Fans sind viele Touristen in der Stadt an diesem Wochenende, und auch die Einheimischen haben morgen in der Regel frei.
Da ist es ist nicht so einfach, zu siebt in einer Bar oder einem Restaurant etwas zu finden. Beim Sheraton Hotel haben wir schließlich Glück und bekommen einen Tisch draußen. Es ist ein warmer Abend, nachdem nachmittags beim Spiel auch die Sonne kräftig schien. Was wir gemacht hätten, wenn es beim Match geregnet oder gewittert hätte, möchte ich mir lieber nicht ausmalen. Tipp übrigens für Denver-Besucher: Section 108 und die Sections rechts daneben (von oben gesehen) haben die Sonne im Rücken, für Nachmittagsspiele ein nicht zu unterschätzender Vorteil, denn auf der gegenüberliegenden Seite blinzeln die Zuschauer in die Sonne.
Wir beschließen den letzten Abend in Denver mit Cocktails, Bier und Wein. Es hat zum Glück bis jetzt alles geklappt, keiner ist krank geworden, alle geplanten und gebuchten Reisebausteine haben funktioniert. Darüber sind vor allem Dieter und Irene als Organisatoren der Reise erleichtert. Dass nicht alles dem Geschmack der Kinder entsprochen hat, war uns schon vorher klar. Julian fand, dass zu viel Landschaft und zu wenig Meer (nämlich gar keins) geboten wurde. Jasmin war die Fahrerei gewiss oft zu viel. Lisa war vielleicht das Campen zu rustikal (die Mädchen haben sich mit den hygienischen Verhältnissen mitunter schwer getan). Jakob hat die Reise nach unserem Eindruck durchweg genossen, auch wenn ihm die Eltern (vor allem die Mutter) oft nicht relaxed genug erschienen. Jonas hat es gefallen, zumindest nach der Frequenz und dem Inhalt seiner Facebook-Postings zu urteilen. Er scheut allerdings den Flug.
Insgesamt lief es trotz der Enge und des täglichen und nächtlichen Miteinanders von sieben Erwachsenen ganz unterschiedlichen Charakters recht harmonisch, alle haben sich weidlich bemüht, keine Missstimmung aufkommen zu lassen.
Unser nächster USA-Urlaub (Februar/März 2015) wird sicher keine Großfamilien-Expedition, sondern ein schnuckeliger Urlaub zu zweit, den die „älteren Herrschaften“ dann ganz nach Gusto mit Wandern, Stadtbummeln und leckerem Essen ausfüllen werden – ohne Facebook und ohne den unbezähmbaren Drang nach Wifi.
Exkurs: Reiseführer
Die Planung für unsere Reise hat unzählige Stunden gedauert – für uns ein Quell der Vorfreude, keine Last. Profitiert haben wir vom USA-Forum, von der Zeitschrift „America“, von Websites der verschiedenen Tourismus-Büros in USA und vor allem und nach wie vor von gedruckten Reiseführern. Drei von ihnen hatten wir auch im Koffer: Iwanowskis „USA Nordwesten“, Grundmann: „Der ganze Westen“ (Reise-Knowhow) und Wagner/Wagner: „Rocky Mountains“ (Vista Point). Unterwegs wirklich nützlich waren nur die beiden letzten. Ohne Grundmann reist man nicht, und richtig gute Praxis-Tipps haben wir immer wieder in dem Ringbuch vom Vista-Point-Verlag gefunden, zumal er unsere Route in weiten Teilen abbildet. Beim Grundmann, der natürlich langsam veraltet (Ausgabe 2005), haben wir bei unseren Reisen stets nur zwei Kritikpunkte: Das wirklich schwache Index-Register am Ende, hier fehlen viel zu viele Stichworte, und die Vorliebe des Autors für primitive Natur-Campgrounds, die mit einer Abneigung gegen Komfortplätze einhergeht.